Natürliche Selektion (German Edition)
genießen. Jedenfalls hatte er Zugriff auf all ihre Schränke und ihren Account auf dem Computer. Er gab das Passwort ein und bestätigte kurz darauf: »Auch im privaten Kalender ist nur die Absenz eingetragen.«
Leo führte eine aufgeräumte Praxis. Keine Klebezettel, keine Papiere, nichts lag herum. Während Audrey fieberhaft überlegte, wo sie weitersuchen sollte, wählte sie zum x-ten Mal Leos Handynummer. Wie stets in den letzten Tagen meldete sich nur ihre Mailbox.
»Vielleicht machen wir uns zu viele Sorgen«, murmelte Edmond mehr zu sich selbst. »Leo weiß, was sie tut.«
»Eben!«, platzte sie heraus. Sie schaute ihn herausfordernd an, als erwarte sie eine Entschuldigung für seine unbedachte Äußerung. Zu ihrer Überraschung wandte er sich wortlos ab und ging hinaus. Sie hörte, wie er kurz mit der Sprechstundenhilfe sprach, dann kehrte er mit seinem breiten Lächeln zurück.
»Ich kann mir vorstellen, wo sie sein könnte«, sagte er. »Das Letzte, was Leo gestern Abend beschäftigt hat, war der Suizid eines ihrer ehemaligen Patienten. Der Mann hat sich im Parc des Buttes Chaumont von der Brücke gestürzt, wie so viele vor ihm. Vielleicht wollte Leo ...«
Sie ließ ihn nicht ausreden. »Und das ist eine gute Nachricht, wie?«, fauchte sie. Sein unangebrachtes Grinsen ärgerte sie.
Unbeeindruckt machte er eine einladende Handbewegung und sagte: »Kommen Sie, ich fahre Sie hin. Wir werden sie finden.«
Sie biss sich auf die Zunge, unterdrückte die giftige Antwort und fuhr mit ihm in die Garage hinunter. Die Selbstmörderbrücke! Um Gottes willen, tu dir das nicht an, Leo , flehte sie im Stillen, tu mir das nicht an! Sie schielte verstohlen zu Edmond hinüber, der entspannt am Steuer saß, scheinbar unberührt von ihrem ruppigen Benehmen. Er zog es vor, zu schweigen. Es tat ihr leid, ihre miese Laune an ihm ausgelassen zu haben, aber auch sie sagte nichts auf der Fahrt zum Park. Die Sorge um ihre Mutter schnürte ihr die Kehle zu.
Kaum hatte er den Wagen geparkt, rannte sie den Weg hinauf zur Brücke. Sie kannte sich aus. Als Kind hatte sie manchmal in diesem Park gespielt. Damals wachte Leo über sie, jetzt waren die Rollen plötzlich vertauscht. Sie achtete nicht auf die zahlreichen Spaziergänger in ihren bunten Frühlingskleidern. Nur die schlanke, schwarze Gestalt suchte sie. Atemlos stand sie auf der hohen Brücke, hielt angestrengt nach beiden Seiten Ausschau, wagte kaum den Blick hinunter aufs Wasser. Keine Spur von Leo. »Tolle Idee, Edmond«, schimpfte sie vor sich hin. Statt Erleichterung spürte sie, wie sich ihr Magen noch mehr zusammenzog. Noch einmal suchte sie die Umgebung nach der schwarzen Gestalt ab. Vergeblich, aber sie sah Edmond am Ende der Brücke, und wieder leuchtete die ganze Pracht seiner weißen Zähne im grinsenden Gesicht. Seine Hand zeigte nach oben, auf einen Punkt hinter ihrem Rücken. Sie drehte sich um und sah sofort, was er meinte. Vor ihr erhob sich der kleine Hügel des Belvédère. Das Schwarz von Leos Trauerkleid hob sich deutlich ab vom Weiß des griechischen Tempels auf dem höchsten Punkt. »Leo!«, rief sie, freudig winkend und rannte hinauf.
»Audrey! Welche Überraschung! Was machst du denn hier?«
»Maman, Gott sei Dank!« Audrey fiel ihr in die Arme, hielt sie fest, bis sich ihr Atem und der Herzschlag beruhigten. Seit vielen Jahren hatte sie ihre Mutter nicht mehr Maman genannt. Vielleicht war das der Grund, weshalb Leo mit einem Mal hemmungslos an ihrer Schulter zu weinen begann.
Hôpital Pitié-Salpêtrière, Paris
Vielleicht hätte sie doch nicht herkommen sollen, dachte Audrey ernüchtert. Kaum war die Schwester in Edmonds Büro verschwunden, wurde sie durch die angelehnte Tür unfreiwillige Zeugin einer lautstarken Auseinandersetzung. Edmond und ein zweiter Mann schienen ganz und gar nicht gleicher Meinung zu sein über Prioritäten und Loyalität. Mehr verstand sie nicht. Sie wandte sich zum Gehen, da stürmte der Unbekannte aus dem Büro, die blasse Schwester im Schlepptau. Er war offensichtlich Arzt, ein stattlicher Mittvierziger mit angegrauten Schläfen, gepflegtem Spitzbärtchen und der bolzengeraden, stolzen Haltung eines Dragoners. Ein gealterter Dandy aus einer anderen Zeit. Vor dem Spiegel der Garderobe machte er Halt, kontrollierte Haar und Bart, dann eilte er den Korridor hinunter und entschwand ihren Blicken.
»Wenigstens sitzt seine Frisur«, lachte sie, als Edmond den Kopf herausstreckte. »Ist der immer so gut drauf?«
Er
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