Natürliche Selektion (German Edition)
spät für eine Entschuldigung, mindestens für Michel. Audrey wäre sofort mit dem nächsten Zug nach Paris gereist, hätten laufende Ermittlungen und ein hyperventilierender Staatsanwalt sie nicht davon abgehalten. Aber nun war sie da. Bereit, mit ihrer Mutter zu reden.
Das Ritual zog sich bedenklich in die Länge, doch endlich war es soweit. Der Sarg wurde in die Grube gesenkt, viele der Umstehenden verneigten sich noch einmal vor dem offenen Grab. Leo trat mit einer roten Rose heran, warf sie nach kurzem Zögern auf den Sarg und wandte sich schnell ab. Die drei Frauen neben ihr schluchzten lauter, begannen aufgeregt zu tuscheln. Auch sie hatten Blumen in der Hand, reihten sich nun ein in die Prozession der Trauergäste. Als sich Audrey wieder nach Leo umsah, war sie verschwunden. So angestrengt sie auch suchte, ihre Mutter blieb wie vom Erdboden verschluckt. Sensationelle Polizeiarbeit! , gratulierte sie sich bissig. Typisch Leo: sich sofort in ihr Schneckenhaus zurückzuziehen. Kurz entschlossen nahm sie ein Taxi und ließ sich zur Wohnung auf der Butte aux Cailles fahren.
Niemand reagierte auf ihr Klingeln. Sie klopfte heftig an Leos Tür, rief ihren Namen. Keine Reaktion. Auch wenn sie sich tot stellte, ihrer Tochter würde sie öffnen. Sicher war sich Audrey allerdings nicht mehr. Wo konnte sie sein? Allmählich spürte sie einen Kloß im Hals. Leo kannte sich aus mit gemarterten Seelen, aber auch sie war nur ein Mensch, eine Frau, der das Schicksal gerade die neue große Liebe entrissen hatte. Ein beklemmendes Gefühl beschlich Audrey. Wurde ihre Suche zum Rettungseinsatz?
»Dummkopf, warum hast du sie entwischen lassen!«, schimpfte sie laut. Sie rannte die Treppe hinunter, das Telefon am Ohr. Auf der Fahrt zur Klinik versuchte sie vergeblich, jemanden an den Apparat zu bekommen, der ihr eine vernünftige Auskunft über Leos Verbleib geben konnte. Kurz darauf stand sie zornig am Empfang der Psychiatrie. Die Dame hinter dem Pult ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen, antwortete höflich und höchst unverbindlich auf ihre drängende Frage:
»Dr. Bruno ist heute nicht im Haus, Madame. Sie wird morgen wieder hier sein. Möchten Sie einen Termin?«
»Haben Sie nicht verstanden?«, herrschte sie die Frau an. »Dr. Bruno ist meine Mutter, und ich suche sie dringend!«
Die stoische Empfangsdame brauchte nicht zu antworten, denn hinter ihr fragte eine Männerstimme freundlich, aber mit seltsamem Akzent: »Sie sind Leos Tochter?«
»Sagte ich doch gerade«, antwortete sie unwirsch und drehte sich um. Als sie die einnehmend gefletschten weißen Zähne im braunen Gesicht sah, wusste sie, woher der Akzent des Mannes kam. Er streckte ihr die Hand entgegen und stellte sich vor:
»Edmond Renard. Ich bin Leos Assistent.«
Ihre Mutter hatte ein paar Mal von ihm gesprochen. Ein Assistenzarzt der Psychiatrie. Sie hatte sich keine bestimmte Vorstellung von diesem Mann gemacht, warum sollte sie auch. Nichts an ihm erinnerte an einen Arzt. In seinen ausgewaschenen Jeans und dem blau-weiß gestreiften Hemd glich er eher einem Kellner aus Fort-de-France am freien Nachmittag. Der Anblick überraschte sie so sehr, dass sie die Hand nur zögernd ergriff. »Audrey Barrès, Docteur«, sagte sie unsicher.
Er schmunzelte. Dabei verzog er sein Gesicht zu einem strahlenden Lachen. »Der Lieutenant!«, antwortete er erfreut, als hätte er sie sehnlichst erwartet. »Leo hat mir viel von Ihnen erzählt. Aber lassen Sie doch den Doktor. Ich bin einfach Edmond.«
Sein Charme ließ sie kalt. »Also hören Sie – Edmond – ich muss dringend mit Leo sprechen. Wo ist sie?«
Das Lachen verschwand. Verwirrt stellte sie fest, dass sich ihre Sorge auf seinem Gesicht spiegelte, als er etwas verkrampft sagte: »Ich – weiß nicht – sie hat sich für die Beisetzung Dr. Simons frei genommen.«
»Ihr Freund, ich weiß. Ich war dort. Habe sie aus den Augen verloren. Zu Hause ist sie auch nicht aufgetaucht. Ich glaube, es geht ihr nicht gut.« Nach kurzem Zögern fügte sie hinzu: »Ich muss sie finden.«
»Ich verstehe. Wir sollten das nicht hier besprechen. Kommen Sie!«
Sie folgte ihm die Treppe hoch zu den Büros und Praxisräumen.
»Das ist ihr Sprechzimmer«, sagte er, nachdem er ein paar Worte mit der verwirrten Sprechstundenhilfe gewechselt und Audrey einfach durch die Tür geschoben hatte. »Vielleicht finden wir hier eine Notiz oder sonst einen Hinweis, wo Ihre Mutter sein könnte.« Edmond schien Leos volles Vertrauen zu
Weitere Kostenlose Bücher