Natürliche Selektion (German Edition)
traurigen Schicksal der Verstorbenen steckte.
»Und – Michel?«, fragte sie vorsichtig, als Leo schwieg.
»Hier, sieh selbst.« Ihre Mutter öffnete einen zweiten Bericht auf dem Bildschirm. Michels Befund. Sie brauchte nicht viel zu lesen, um zu begreifen, dass auch Michels Hirn befallen war. »Die Symptome sind bei ihm einfach noch nicht ausgebrochen«, fügte sie leise hinzu. »Obwohl ...«
»Obwohl was?«
»Ach nichts.«
Sie hakte nicht nach. Ein auffälliges Muster war ihrem geschulten Verstand bei dieser Geschichte sofort aufgefallen. Alle vier Toten hatten ihre Eltern früh verloren, jahrelang gemeinsam Eliteschulen besucht, waren sozusagen von professionellen Erziehern als Ersatzeltern großgezogen worden. Und alle vier waren auf ihre Art Genies, eine Klasse für sich in ihren Berufen. Nicht so der fünfte der Freunde. Warum? Was war anders bei diesem Reporter? Leos Antwort bestärkte ihren Verdacht, dass dieses Muster ein wichtiges Indiz war. Nur – Indiz wofür?
»Michel meinte, dass der Reporter vielleicht nicht betroffen sei, weil er früh aus ihrem Bildungsmarathon ausgestiegen war«, sagte Leo. »Und es sieht ganz danach aus, dass er recht hatte. Ich habe unter der Hand erfahren, dass sich Chevalier ein MRT machen ließ. Befund negativ. Keine Plaque.« Wieder schaute sie lange nachdenklich auf ihren Bildschirm, bis sie schließlich erregt aufstand und murmelte: »Wenn ich nur wüsste, wie und wo sie sich angesteckt haben.«
»Wenn es denn eine Ansteckung war«, entgegnete Audrey ohne Zögern und bereute sogleich, was ihr herausgerutscht war. Doch ihre Mutter war zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um den Sprengstoff in ihrer Antwort zu erkennen. »Übrigens, dein Assistent scheint ein netter Kerl zu sein«, sagte sie schnell, um das Thema zu wechseln.
»Was – ach ja. Warum?«
»Edmond half mir, dich zu finden, hat mich ohne weiteres hingefahren. Ist doch nicht selbstverständlich, oder?«
»Edmond, soso. Man duzt sich also schon«, spottete Leo. Ihr Ton ließ keinen Zweifel daran, dass ihr das ganz und gar nicht gefiel, und Audrey fühlte sich sofort provoziert:
»Quatsch, wir duzen uns nicht. Und überhaupt, was wäre dagegen einzuwenden?«
»Ach, Audrey«, seufzte Leo, gab aber keinen weiteren Kommentar ab.
Warum ließ sie nur das Gefühl nicht los, alle Vorzeichen im Verhältnis zu ihrer Mutter hätten sich plötzlich geändert? Sie blieb bei ihrer Feststellung. Edmond war ein netter Kerl, basta. Vielleicht grinste er ein bisschen zu breit, aber sonst war er in Ordnung.
Grande Mosquée, Paris
Audrey musste feststellen, dass sie noch viel von ihrer Mutter lernen konnte. Die Raffinesse, mit der es Leo gelang, Edmonds originelles und vor allem überraschendes Geschenk zurückzuweisen, ohne ihn zu kränken, suchte ihresgleichen. Genützt hatte es ihr trotzdem nichts. Er trug kurzerhand einen unverdächtigen Termin für diesen Morgen in ihren Kalender ein: Zehn Uhr, vorverschobener Wochenrapport, zwei Stunden. Durchaus plausibel an einem Donnerstag.
Nun saß sie mit Leo im Hammam der Grande Mosquée, dank den zwei Stunden unfreiwilliger Freizeit, für die der hartnäckige Edmond mit seinem fiktiven Termin gesorgt hatte, und seinen Gutscheinen für ›das volle Programm‹, wie er sich ausdrückte. Im ersten Dampfbad wirkte Leo noch ziemlich verschlossen, in sich gekehrt, verspürte wenig Lust zu reden. Doch nach und nach, mit der zunehmenden Hitze der weiteren Bäder, taute sie auf und schien die kleine Eskapade zu genießen. Sie beide konnten sich dem orientalischen Zauber der Nischen, Bäder und maurischen Säulengänge, reich verziert mit prachtvollen Marmormosaiken, nicht entziehen. Das leise Plätschern des Springbrunnens, der süße Duft nach Seife und Zedernholz verbreiteten eine entspannte Ruhe, noch unterstrichen von gedämpftem Geplauder und gelegentlich aufflammendem Gelächter der badenden Frauen.
Audrey musterte ihre Mutter verstohlen von der Seite. Ihr schlanker Körper mit den festen Brüsten wirkte geradezu jugendlich. Sie verglich die bis auf knappe Bikinihöschen nackte Gestalt neben ihr unwillkürlich mit sich selbst. Ein wenig neidisch musste sie zugeben, dass der Vergleich gar nicht so eindeutig ausfiel wie angenommen. Leo konnte einen ganz schön verunsichern, aber das wusste sie ja.
»Was hast du eigentlich gegen Edmond?«, fragte sie unvermittelt, während sie sich intensiv mit ihren Beinen beschäftigte.
Leos Antwort überraschte sie: »Er ist
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