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Natürliche Selektion (German Edition)

Natürliche Selektion (German Edition)

Titel: Natürliche Selektion (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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geradezu auf, schöpfte Kraft aus einer Quelle, die nie zu versiegen schien. Sie hatte eine Aufgabe, ein klares Ziel, würde nicht ruhen, ehe die Verantwortlichen für den Tod ihres Geliebten gefunden und bestraft waren.
    Sobald die Wohnungstür hinter ihr ins Schloss fiel, ließ sie Schlachtfeld Nummer eins, die endlosen, zermürbenden und zunehmend gehässigeren Sitzungen in der Klinik, hinter sich. Sie erfuhr zum ersten Mal am eigenen Leib, wie sich der abstrakte Begriff ›mobbing‹ wirklich anfühlte. Sie hatte geglaubt, zahlreiche Mobbing-Opfer in ihrer Praxis erfolgreich beraten zu haben, aber sie hatte sich getäuscht. Sie musste sich eingestehen, dass sie sich bis anhin keine Vorstellung von den entsetzlichen Wunden gemacht hatte, die all die kleinen Sticheleien, abschätzigen Blicke, das verletzende Schweigen oder schlicht der fehlende Respekt in eine weniger widerstandsfähige Seele reißen mussten. Aber dieser Kampf ruhte bis zum nächsten Morgen.
    Sie setzte sich mit einem Glas Weißwein auf die Terrasse und sichtete die Post im Dämmerlicht der untergehenden Sonne. Außer dem Brief ihres Anwalts war nichts Wichtiges dabei. Der Anwalt: Schlachtfeld Nummer zwei, ihre Strafanzeige gegen die Zeitung wegen Verleumdung. Klar, dass sie die Lügen des Massenblattes nicht unbeantwortet lassen konnte, auch wenn ihr Ruf schon im Eimer war. Die Verantwortlichen mussten zur Rechenschaft gezogen werden. Die entscheidende Frage war nur, wie sie ihre Unschuld beweisen sollte. Sie schob den Brief zur Seite und griff zum Telefon. Schlacht Nummer drei hoffte sie schneller und leichter zu beenden: sie musste das Vertrauen ihrer Tochter wiedergewinnen.
    »Was willst du?«, begrüßte sie Audrey barsch.
    »Leg jetzt bitte nicht auf. Ich möchte, dass du dir einfach meine Version in Ruhe anhörst, Audrey.« Sie wartete bang auf die Reaktion, doch ihre Tochter schwieg. »Also, ich weiß, dass dich der Zeitungsartikel und vor allem die scheußlichen Bilder schockiert haben. Mich hat das alles genauso getroffen, bitte glaube mir. Nicht weil ich mich schuldig fühle, sondern im Gegenteil, weil alles von A bis Z erlogen ist.« Es blieb immer noch ruhig in der Leitung. Wenigstens hörte sie zu. »Erstens habe ich mir rein gar nichts vorzuwerfen wegen dem tragischen Suizid meines Patienten. Seine Akte ist wasserdicht. Die Diagnose war damals richtig. Ich habe nicht gepfuscht, wie man mir unterstellt, und ich werde das beweisen. Zweitens, die Fotos. Es sind Fälschungen, Audrey. Ich war nie in irgendeinem Park oder sonst wo öffentlich mit Michel zugange. Die Unterstellung ist – einfach absurd!« Gott, wie kam sie dazu, so etwas überhaupt mit ihrer Tochter diskutieren zu müssen!
    Audrey räusperte sich. »Das sagst du nicht zum ersten Mal«, warf sie ihr vor. »Wenn es Fälschungen sind, warum verklagst du die Zeitung dann nicht?«
    »Genau das habe ich gemacht. Ich weiß allerdings nicht, wie ich das denen beweisen soll.«
    »Fälschungen kann man nachweisen«, antwortete Audrey lapidar.
    »Wie denn? Die Zeitung wird ihre Quellen mit Sicherheit schützen. Kein Gericht kann sie zur Herausgabe der Information zwingen, das weißt du doch.«
    Audrey lachte abschätzig. »Gericht. Es braucht kein Gericht, um Fälschungen nachzuweisen, nur Software.«
    Sie verstand nicht, was ihre Tochter meinte. »Du sprichst in Rätseln. Was soll das heißen?«
    »Damit will ich sagen, dass es für unsere Jungs im Labor ein Leichtes wäre, die Fotos als Fälschungen zu identifizieren.«
    »Dann tut es doch!«, platzte sie heraus. »Entschuldige, aber – das wäre der Durchbruch für meine Klage, verstehst du?«
    »Ja, schon«, brummte Audrey mürrisch. »Ich kann aber nichts unternehmen ohne offiziellen Auftrag oder Gerichtsbeschluss. Zudem müsste ich die Originale haben, oder wenigstens gute Abzüge.«
    Leo überlegte nicht lange. Die Abzüge würde ihr Anwalt beschaffen, und wenn sie ihm Feuer unterm Hintern machen müsste. »Ich beschaffe dir die Fotos«, sagte sie entschlossen. »Was die Jungs im Labor angeht, wirst du dir schon etwas einfallen lassen. Audrey, ich bitte dich, hilf mir, aus diesem Schlammassel herauszukommen. Du willst doch auch, dass dieser Dreck nicht an mir kleben bleibt.«
    »Ich weiß nicht. Das kann mich den Job kosten, Maman.«
    Maman – Audrey hatte das Zauberwort gesagt! Diese Schlacht war so gut wie gewonnen, das wusste sie nun. Unendlich erleichtert bedankte sie sich und legte auf. Zurück zur zweiten Front. Sie

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