Natürliche Selektion (German Edition)
hatte nun Grund genug, den Anwalt anzurufen. Ihr Ton ließ wohl keinen Zweifel an der Bedeutung, den sie ihrem Auftrag beimaß. Er sollte anständige Abzüge besorgen, aber gestern. Zu ihrem Erstaunen versuchte er gar nicht erst, zu argumentieren. Er begnügte sich mit der Bemerkung: »Wird nicht ganz einfach sein, Madame.«
Die Aussicht auf einen Durchbruch an der Zeitungsfront beflügelte sie. Am liebsten wäre sie auf der Stelle selbst in die Redaktion gestürmt, um die Bilder zu holen. Ihr Glas war leer. Sie goss nochmals nach und trank einen Schluck, um sich zu beruhigen. Endlich konnte sie sich der wichtigsten Kampfzone widmen, der Aufklärung des Verbrechens an Michel. Dass es sich um nichts anderes handelte war seit dem Gespräch auf dem Campo in Venedig sonnenklar.
Remedis – das Logo des Pharmakonzerns stand auf vielen Medikamentenpackungen, die durch ihre Hände gingen. Unmöglich, an deren Hauptsitz nach Verantwortlichen zu suchen. Ein noch so konkreter Verdacht reichte nicht für eine Anklage gegen Unbekannt. Sie brauchte Beweise, und überdies konnte und wollte sie sich ein zweites Gerichtsverfahren nicht leisten. Befand sie sich nun in der Sackgasse, wie sie insgeheim befürchtet hatte? Sie besaß ein ansehnliches Dossier mit allen Erkenntnissen, die bisher zu den vier Todesfällen öffentlich und auf halb legalem Weg bekannt geworden waren, doch dieses ganze Material brachte sie keinen Schritt weiter. Inzwischen war die Nacht hereingebrochen. Sie fröstelte und zog sich ins Haus zurück. Sie hatte zunehmend Mühe, sich zu konzentrieren. Ihr Kopf war leer und sie ärgerte sich darüber, bis sie begriff, dass die Leere von ihrem Magen ausging. Sie schnitt ein paar Scheiben von der nicht mehr ganz frischen Baguette, beschmierte sie dick mit Butter und begann gierig zu kauen.
Das Wundermittel wirkte auch diesmal. Nicht zu fassen, dass sie nicht früher daran gedacht hatte. »Das ist es!«, rief sie aus. Sie warf die angebissene Brotscheibe auf den Teller zurück, sprang auf und eilte zum Schrank, wo sie Michels Papiere aufbewahrte. Fieberhaft suchte sie die Fotos, welche Alain Chevalier bei Lorenzos Beerdigung geschossen hatte. Sie erinnerte sich genau an die vielen Porträts, die dabei entstanden waren. Gesichter unbekannter junger Männer in Michels Alter, trauernde Gesichter, Betroffene. Sie war bisher stets davon ausgegangen, dass die vier Freunde die einzigen Opfer waren, und die konnten nicht mehr reden. Aber es gab keinen Grund für diese Annahme. Warum sollte es nicht noch mehr Infizierte geben, bei denen die fatalen Symptome noch nicht ausgebrochen waren? Sie kannte keinen der Männer auf den Fotos, glaubte aber zu wissen, wer ihr weiterhelfen könnte. Die Visitenkarte steckte noch immer in ihrer Tasche. Es war schon spät, nach neun, das anständige Zeitfenster für solche Anrufe längst geschlossen. Trotzdem wählte sie die Nummer auf dem Kärtchen und hoffte inständig, dass sich kein Anrufbeantworter meldete. Gott sei Dank , seufzte sie innerlich, als sie die bekannte Stimme von Professor Fabres Assistenten hörte.
»Dr. Haegler, bitte entschuldigen Sie die späte Störung«, sagte sie hastig. »Ich weiß, es ist taktlos von mir, aber es handelt sich gewissermaßen um einen Notfall.«
»Das hört sich ziemlich dramatisch an, Madame.«
»Ist es auch, glauben Sie mir. Haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich?«
»Ja, kein Problem. Worum handelt es sich?«
»Ich – müsste Sie treffen. Das geht nicht am Telefon. Ich will Ihnen etwas zeigen.«
»Geht es – um Michel?«, fragte er zögernd.
»Ja. Ich glaube, ich verstehe das Rätsel jetzt etwas besser, aber ich brauche Ihre Hilfe.«
»Selbstverständlich, Madame. Jederzeit, wie ich Ihnen gesagt habe. Ich bin noch im Büro. Wenn Sie wollen ...«
»Ich bin in einer halben Stunde bei Ihnen!«, unterbrach sie erregt. »Vielen Dank.«
Als sie sein Büro betrat, blieb sie verblüfft stehen. Es hatte keine Ähnlichkeit mit den eher düsteren Klubräumen seines Chefs. Helle, schlichte Holzmöbel, Bildschirm, Drucker und eine riesige weiße Bücherwand, vollgepackt mit Wälzern und Stapeln von Manuskripten. Ohne die moderne Fensterfront hätte es ebenso gut Lombardis Arbeitszimmer in Venedig sein können. Haegler räumte die Papiere von einem der Sessel und bot ihr Platz an.
»Ich bitte Sie nochmals um Verzeihung für die Störung«, sagte sie. »Es dürfte nicht lange dauern.« Sie breitete die Fotos der jungen Männer auf dem
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