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Naturgeschichte(n)

Naturgeschichte(n)

Titel: Naturgeschichte(n) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H Reichholf
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herumzustochern, in denen er eine dicke Made festgestellt hat, die er aber mit seinem kurzen Finkenschnabel nicht erreichen kann. Er spießt sie auf wie ein Häppchen mit einem Zahnstocher.
    Die Spitzenleistung in dieser Richtung stammt jedoch von Neukaledonischen Krähen. Um an ein Schälchen mit Fleisch zu kommen, das neugierige Forscher in einen tiefen Glaszylinder gestellt hatten, bogen sie sich ein Stück Draht zu einem Haken. Damit erfassten sie den Henkel des Schälchens und angelten sich so das attraktive Fleisch heraus. In solchen Fällen wird der Schnabel wie eine Hand benutzt. Doch das ist selten, ja die große Ausnahme in der Vogelwelt. Sie haben eben keine Hände, die Vögel, sondern » nur« Schnäbel.
    Was sie mit diesen an kompliziertesten Knoten beim » Weben« von Nestern zuwege bringen, überfordert allerdings bei Weitem die geschicktesten Affenhände. Und auch im breiten Spektrum der Ernährung verrichten sie mit ihren Schnäbeln Wunderdinge. Großpapageien, wie die südamerikanischen Aras, knacken mit ihren Schnäbeln Paranüsse. Flamingos seihen winzige Krebse und mikroskopisch kleine Algen aus der Salzbrühe an Lagunen und Salinen, wobei ihre Zunge wie eine Pumpe wirkt. Kolibris trinken im Schwirrflug vor den Blüten Nektar wie aus feinsten Cocktailröhrchen. Dämmerungsvögel wie Ziegenmelker und Nachtschwalben benutzen ihre weit aufgespannten Schnäbel wie Reusen zum Fang von Insekten. All das und noch vieles mehr leisten die Vögel mit ihren Schnäbeln.
    Zum Beispiel auch der Tukan, der Oskar Heinroth und Konrad Lorenz so in Erstaunen versetzte. Er kann sich damit ebenso reife Palmfrüchte abzwicken wie Jungvögel aus Nestern » rauben« und sich damit als zu seiner und keiner anderen Tukanart gehörig ausweisen. Markante Muster und grellbunte Farben signalisieren dies. Sie verraten auch bei vielen anderen Vogelarten die Fortpflanzungsbereitschaft zum Beginn der Paarungszeit. Manche Schnäbel eignen sich sogar zum Klappern, wie beim Storch, und zum Fechten, wie bei den großen Albatrossen. Das Horn, das die äußere Schnabelhülle bildet, kann übrigens ähnlich wie die Federn gewechselt und erneuert werden. Das ist ein wirklich großer Vorteil im Vergleich zu uns Menschen: Es gibt zwar durchaus abgenutzte Zähne, aber kaum jemals abgenutzte Schnäbel.
    Doch warum tragen Vögel eigentlich keine Zähne? Nicht mehr, müsste man betonen, denn anfangs hatten die Vögel sehr wohl Zähne. Auf ihre Existenzzeit bezogen hielten die Zähne sogar recht lange durch – bis ins letzte Drittel der Vogelevolution. Dann verschwanden sie komplett und ohne Ausnahme. Der häufig genannte Grund, die Zähne seien für den Flug zu schwer gewesen, stimmt ebenso wenig wie das Gewicht-Argument das Festhalten der Vögel an der Fortpflanzung über Eier begründen kann. Fledermäuse fliegen und tragen Zähne. Manche Vögel fliegen sehr gut und haben einen sehr wuchtigen, schweren Schnabel. Andere tragen schwere Lasten im Schnabel, ohne wegen deren Gewicht erkennbare Flugschwierigkeiten zu zeigen. Und Fossilien beweisen, dass Zahnvögel bis in die Zeit existierten, in der die Singvögel entstanden. Zähne müssen auch nicht sehr massig sein. Bei einer Untergruppe der Enten, den Sägern, reichen zähnchenartig geformte Ränder des Schnabels, um schlüpfrige Fische festzuhalten. Im Gegensatz zu manch anderem altertümlichen Merkmal, wie Federn an den Beinen, treten Zähne als Rückschläge in der Entwicklung der Vogelküken nicht auf. Das weist darauf hin, dass die Vorfahren der heutigen Vögel die Fähigkeit, Zähne auszubilden, schon sehr frühzeitig verloren haben. Die letzten Zahnvögel, die existierten, starben aus, ohne Verwandte zu hinterlassen.

    Schnabelformen (von links oben nach rechts unten): Kleidervogel, Schuhschnabel, Nashornvogel, Regenpfeifer, Säbelschnäbler, Tukan, Ara.
    Denkbar ist, dass die Grundsubstanz für die Zahnbildung, das Kalziumphosphat, für die Bildung der Eischalen benötigt wurde? Phosphat enthalten nur Fische reichlich. So viel, dass die Exkremente der Seevögel, die von Fischen leben und in großen Kolonien brüten, den geschätzten Guano liefern. Die letzten fossil bekannten Zahnvögel waren Seevögel. Das könnte ein Hinweis sein, aber genau wissen wir es einfach nicht. Solchen Fragen wie dem Fehlen der Zähne bei den Vögeln, nachzugehen gehört zu den reizvollsten Tätigkeiten in der Wissenschaft. Es wäre schade, wenn schon alles so weit erklärt wäre, dass es keine

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