Naturgeschichte(n)
stufte die Gesellschaft als asozial ein, zumal, wenn sie Armenhilfe beanspruchten und so » auf Kosten anderer« lebten. In der engen Religionsgemeinschaft tragen alle zum Wohle der Gemeinschaft bei und keiner lebt darin auf Kosten der anderen. Die gemeinschaftliche Arbeit steigerte die Leistung weit über das hinaus, was einzelne oder auch Familien zustande bringen könnten. Die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Kathedralen sowie auch die im Vergleich zu ihren Dörfern oft recht großen Kirchen zeugen eindrucksvoll von diesen Gemeinschaftsleitungen in vorindustrieller Zeit.
Abgaben an den Staat wurden und werden als Zwangsabgaben empfunden, denen man sich möglichst zu entziehen sucht – legal durch Steuerschlupflöcher oder illegal durch Hinterziehung. Die Steuer » frisst« der anonyme Staat und setzt sie verschwenderisch ein. Die aus der religiösen Motivation heraus erbrachte Leistung hingegen erzeugt ein gutes Gefühl. Auch in unserer Zeit steht die Spendenbereitschaft für gute Zwecke in krassem Gegensatz zur Akzeptanz der Steuerzahlungen. Obwohl beide Ausgaben anderen zugute kommen, wird die eine persönlich klar positiv, die andere ebenso selbstverständlich negativ bewertet. Derart tief sitzende Empfindungen weisen auf eine Vergangenheit, in der es wichtiger war als heutzutage, seinen Teil für die Gemeinschaft beizutragen.
Einen Einstieg dazu vermittelt der Begriff » Religion«. Er stammt aus dem Lateinischen und bedeutet, sogar in wörtlicher Übersetzung, Rück-Bindung. Rückbindung an die Gemeinschaft und die Ahnen, denen die Gemeinschaft ihre Existenz verdankt. Dabei geschieht etwas Seltsames. Die Rückbindung schafft Zukunft. Oder, noch klarer ausgedrückt, sie macht zuversichtlich. Weil sie das Leben in der Gegenwart sichert, wird dieses in besonderer Weise zukunftsfähig. Die Kinder mit eingeschlossen. Sie werden sich auf ihrem weiteren Lebensweg auf die Gemeinschaft, aus der sie kommen, verlassen können. Und umgekehrt. Auch die Eltern können hinreichend sicher sein, dass sich die Kinder um sie kümmern werden, wenn sie Hilfe brauchen. Der Druck der Gemeinschaft wird dafür sorgen, sollte der normale, fast unvermeidliche Eltern-Kind-Konflikt zu einer zu starken Entfremdung führen. Hieraus erwächst ganz von selbst die Stabilität der Gemeinschaft. Sie versteht sich als Fortsetzung der ihr vorausgegangenen Gemeinschaften – und daher die Rückbindung an deren Sitten und Riten, an die gemeinsamen Werte.
Versuchen wir, uns die Verhältnisse in vorindustriellen Zeiten und noch früher vorzustellen. Das Leben war nicht nur nahezu ständig bedroht von Hunger und Krankheiten, sondern auch von Feinden. Die anderen Menschen waren die schlimmsten Feinde, weil sie genau das zum Leben beanspruchten, was man selbst brauchte. Wo sich aber Konkurrenz und Feindschaft miteinander verbinden, entstehen Neid und Hass. Nichts bringt Menschen gegen andere Menschen so sehr auf wie Hass. Ihn zu erzeugen und zu schüren war stets die Strategie der Demagogen und Kriegstreiber. Die Kenntnis von Herkunft ( » Abstammung«, daher die immense Bedeutung der Stammväter!) und gemeinsamen Sitten wurde zusammen mit der gruppenspezifischen Sprechweise zum Erkennungszeichen für die Zusammengehörigkeit.
Da sich zwangsläufig die aufgeteilten Gruppen im täglichen Leben auseinanderentwickelten, eigene Erfahrungen machten und sich auch wieder aufspalteten, wurde ein Grundstock von Gemeinsamkeiten als (Wieder-)Erkennungszeichen immer bedeutungsvoller. Die Religion vermittelte ihn und sorgte dafür, dass er als solcher erhalten blieb. Deshalb ist die Bezeichnung Rück-Bindung so zutreffend. Am Anfang wohl aller Religionen stehen daher Entstehungs- oder, später entwickelt, Schöpfungsmythen. Sie sollen den Nachgeborenen ihre Herkunft erläutern und sie immer wieder verpflichtend (!) daran erinnern, woher sie kommen und wohin sie gehören. Religion stellte daher von Anfang an eine Notwendigkeit dar. Sie wurde zu einem Überlebensprogramm.
Und zu einer Möglichkeit, die engen Grenzen von Sippe, Stamm und Volk durch Ausweitung auf » die anderen« zu überwinden. Das Ziel wäre so klar wie edel gewesen, wenn die Ausweitung denn funktioniert hätte: Mit der Einbeziehung » der anderen« verlieren sie ihre Bedrohlichkeit. Denn die gemeinsame Religion verpflichtet sie, gemäß der biblischen Forderung » den Nächsten zu lieben«. Mit den Nächsten waren die Zugehörigen zur (sich vergrößernden) Gemeinschaft gemeint, nicht
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