Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Naturgeschichte(n)

Naturgeschichte(n)

Titel: Naturgeschichte(n) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Josef H Reichholf
Vom Netzwerk:
Nordosten benutzt wurden, so können es über 100 Millionen gewesen sein.
    Die Schmetterlinge kommen auf ihrem Wanderflug fast wie von einer Schnur gezogen daher. Sie fliegen vornehmlich in einer Höhe von einem bis zwei Metern über dem Boden, weichen Hindernissen nicht durch Umfliegen aus, sondern flattern darüber hinweg, als ob sie die Richtung nicht verlieren wollten. Es kann sogar passieren, dass ein vorbeifliegender Distelfalter mit der Spitze seines Vorderflügels die Wange eines Menschen streift, der sich dann seltsam berührt fühlt.
    Die Wanderer kommen von weit her. Die meisten von ihnen schlüpften in Afrika, viele davon sogar südlich der Sahara. Sie überqueren zunächst die sich scheinbar endlos ausdehnende Wüste, machen dann nur kurz am Rand des Mittelmeeres Halt, bevor sie auch dieses überfliegen. Die Distelfalter rasten dann kurz am Fuß der Alpen und warten, bis es warm genug geworden ist für deren Überquerung. Dabei nehmen sie die auch von den Menschen benutzten Alpenpässe und folgen dann möglichst den Flüssen, die nordwärts gerichtet von den Alpen herabfließen.
    Die wenigsten Schmetterlinge beenden ihren Wanderflug schon im nördlichen Alpenvorland. Ihr Flug geht weiter nach Norden und Nordosten. Viele dringen bis in die Regionen rund um die Ostsee vor. Manche kommen sogar bis Island. Die gesamte Flugstrecke macht schließlich 4000 bis 5000 Kilometer aus.
    Am Ziel, das keiner dieser Schmetterlinge zuvor kennt, weil sie nur so lange am Leben bleiben, bis dieser Fernflug vollendet ist, legen die Weibchen ihre Eier an Disteln und andere Pflanzen ab. Sie sind nicht sonderlich wählerisch. Die mit stacheligen Haaren besetzten Raupen entwickeln sich je nach Verlauf der Witterung mehr oder weniger rasch, verpuppen sich und schlüpfen mehrere Wochen später als Falter der neuen Generation. Diese versuchen nun wieder zurückzufliegen nach Süden, in den Mittelmeerraum und weiter nach Afrika.
    Was für eine Unternehmung für so zarte Falter! Im Englischen nennt man sie » Geschminkte Dame«, weil ihre Unterflügel zart pastellfarbene, fein abgegrenzte Flecken tragen. Wer den Falter so sieht und seine Lebensweise nicht kennt, käme nicht auf die Idee, es könnte sich um einen Weltreisenden handeln. Allerdings nutzen sich die Flügel tatsächlich ziemlich stark ab. Nach tage- oder wochenlangem Wandern (pro Tag fliegen die Distelfalter je nach Stärke des Rückenwindes zwischen 80 und 200 Kilometer), sehen sie recht mitgenommen aus, » abgeflogen«, wie der Schmetterlingsforscher sagt. Warum nehmen sie diese Anstrengung auf sich, und weshalb kommt es selten, neuerdings aber immer häufiger zu solchen Massenwanderungen?
    Diese Fragen lassen sich erst in der jüngsten Zeit so einigermaßen überzeugend beantworten. Die Distelfalter machen keine Winterruhe, nicht als Falter oder als Puppe und auch nicht als Ei oder Raupe, wie die allermeisten anderen bei uns heimischen Schmetterlinge. Generation reiht sich bei ihnen an Generation.
    Sie stammen aus den Randbereichen der Tropen, aus Regionen ohne Winter, aber mit ausgeprägter Trockenzeit. Diese können sie in keinem ihrer Entwicklungsstadien überstehen. Die Distelfalter weichen daher aus und folgen den Regenfällen. Aber diese sind südlich der Sahara, in der sogenannten Sahel-Region, unregelmäßig verteilt. In manchen Jahren regnet es wenig oder gar nicht, in anderen reichlich. Entsprechend stark schwanken die Bestände der Distelfalter und anderer Insekten, die auf den Regen angewiesen sind. Fällt dieser überdurchschnittlich, setzt eine Massenvermehrung ein. Die Falter wandern dann auf der Suche nach Nahrung und Raum aus. Dabei nützen sie die Winde, die im Frühjahr zeitweise ausgeprägt nordwärts wehen. Davon werden sie in Regionen getragen, in denen es nicht so trocken ist.
    Sind die Mengen der Falter klein, erstrecken sich ihre Flüge bis ans Mittelmeer. Bei sehr starkem Aufkommen dehnen sie ihre Nordwanderung aber weit über die Alpen hinweg aus und kommen bis ins südliche Skandinavien. Dort, vor allem im Nordosten Europas, wo die Sommerwitterung verlässlicher als im atlantischen Einflussbereich verläuft, entwickelt sich die neue Generation. Wahrscheinlich in einem großen Bogen fliegen die Nachkommen zurück nach Afrika, wo ein neuer Kreislauf beginnt. Feuchtwarme Sommerwitterung ist ihr Ziel. Nur in dieser gedeihen ihre Futterpflanzen. Günstige Winde sind ihre Hilfe. Sie wehen bei besonderen Wetterlagen. Dass sie also so unregelmäßig

Weitere Kostenlose Bücher