Nauraka - Volk der Tiefe
konnte so tun, als wäre nichts geschehen, und Laoren konnte es auf eine Einbildung seines langsam vergreisenden Verstandes oder auf den übermäßigen Genuss von Rauschkraut schieben – doch sie wussten beide, dass dem nicht so war.
Etwas war geschehen, etwas ungeheuer Bedeutendes, dessen Tragweite noch nicht abzusehen war. Vielleicht würde Laoren es nie herausfinden, weil seine Lebenszeit nicht mehr reichte, doch er würde alles daransetzen, was er an Erfahrung und Können aufbieten konnte.
Und an diesem Tag sagte ihm sein Bauchnabel, der sich selten irrte, dass er sofort zum Strand gehen musste.
Als er mit allem bepackt aufbrechen wollte, drehte er doch noch einmal um und holte einen Eimer, wenn er auch nicht wusste, wozu. Doch dieser Eimer musste wohl auch mit dabei sein.
Jetzt schien er alles beisammen zu haben, und Laoren konnte endlich aufbrechen. Die Sonne stand bereits hoch am Mittag, und wie sein Gefühl ihm mitteilte, sollte er sich besser beeilen. Der Sommer war warm, und der Sand würde bald glühen vor Hitze. So manches Treibgut verdarb da schnell oder ging gar in Flammen auf.
So schnell ihn seine dürren alten Beine trugen, hastete Laoren über die grasbewachsenen Dünen. Seine grauen Haare hingen ihm strähnig in die Stirn, und er musste mehrmals den Gürtel um seinen verschlissenen groben Kittel neu schnüren, da er ständig verrutschte. »Diese Eile, diese Eile«, brummte er, »und das in meinem Alter.« Er spürte bereits die aufsteigende Hitze unter dem Leder seiner Schnürsandalen. Zu dieser Zeit suchte man besser den Schatten auf und döste, anstatt über den Sand zu laufen. Doch was sollte er machen? Er musste dem Gefühl folgen, sonst ging er am Ende leer aus. Schon mehrmals waren Strandräuber hier zugange gewesen, die Laoren um einen bescheidenen Reichtum gebracht hatten, weil sie alles einsammelten und er leer ausging.
Schließlich erreichte er den Uferkamm und tanzte ein wenig auf der Stelle, weil heißer Sand in seine Sandalen gerieselt war. Er beschattete die Augen mit der Hand und sah sich prüfend, mit halb zusammengekniffenen Augen, um. Der Schweiß rann an ihm in Strömen hinab, und er verfluchte sich, weil er vergessen hatte, Trinkwasser mitzunehmen. Das hatte sein Gefühl ihm nicht gesagt! Normalerweise war das auch nicht notwendig, da er nie zu dieser Stunde aus dem Haus ging. Das taten nur Verrückte.
Laoren fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. Er fühlte sich bereits ausgedörrt wie ein Schmorapfel, doch gleich darauf vergaß er alle Beschwerden, denn er sah etwas am Strand liegen.
Ein unförmiger Haufen, den seine alten Augen nicht mehr richtig erfassen konnten. Also machte er sich auf den Weg an den Strand, und bald erkannte er den Haufen als Wesen mit zwei Armen und zwei Beinen und sehr langem, hellem Haar, das in der Sonne leuchtete.
»Eine Frau? Eine Frau?« Laoren rieb sich die Hände und kicherte entzückt. Das wäre ja mal ein Geschenk! Wie mochte sie hierher gekommen sein? War sie noch am Leben?
Die lange, schmale Gestalt war in seltsame, kostbare, farbenfrohe Gewänder gehüllt, mit … einem Schwert auf dem Rücken. Laorens Mundwinkel sackten nach unten. Die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine Frau handelte, war soeben fast auf den Nullpunkt gesunken. Natürlich gab es Kriegerinnen, sogar Ritterinnen in einem fernen Land, wie Laoren schon gehört hatte, doch das Schwert war der Größe der Scheide nach zu urteilen zu lang für eine Frauenhand, und vermutlich auch zu schwer.
Laorens Schritt verlangsamte sich, je näher er kam. Vieles an der Gestalt war seltsam. Kleidung und Bewaffnung gehörten zu einem Reichen, doch trug er keine Schuhe! Dass nach einem unfreiwilligen Bad ein Stiefel oder Schuh verloren ging, kam vor. Aber beide Schuhe? Und diese Füße sahen ein wenig seltsam aus, mit ungewöhnlich langen Zehen. Das war kein normaler Schiffbrüchiger, der hier an Land gespült worden war.
Laoren sah sich um. Weit und breit war kein Schiffswrack zu sehen, oder auch nur Teile davon. Keinerlei Hinweise am Strand, bis auf diese hellhaarige Gestalt. Der alte Mann ließ den Blick von dem Wesen Richtung Wasser schweifen. Derzeit herrschte Ebbe, und die See tastete sich nur behutsam an den Strand heran. Die Spuren waren immer noch deutlich zu sehen; der Schiffbrüchige, oder was auch immer er war, war an Land gerobbt, nicht einfach angespült worden, was bei Ebbe auch kaum möglich gewesen wäre. Das bedeutete, er hatte noch gelebt, als er
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