Nauraka - Volk der Tiefe
fühlte die Dunkelheit in sich wachsen, und das wütende Flüstern der Schwarzen Perle.
Wie lange er nun schon hier war, vermochte er nicht zu sagen. Die Jahreszeiten, von denen Laoren erzählt hatte, waren hier im Süden des Landes Nerovia kaum zu bemerken. Ab und zu wurde es ein bisschen angenehmer, wenn die Sonne schräger als sonst am Himmel stand, die Tage kürzer wurden und ein kühler Wind vom Meer her blies.
Für Erenwin veränderte sich dabei nicht viel, außer, dass er mehr Schlaf bekam und Laoren öfter im Rausch dahindämmerte. Doch die Arbeit blieb dieselbe, und der tägliche Rhythmus auch. Ab und zu kamen Händler, und nie gelang es Erenwin, sie auf sich aufmerksam zu machen.
Seine Sinne wären längst abgestumpft, wäre da nicht das fordernde Flüstern in ihm gewesen, und das Bewusstsein der Schuld, weil er Lurdèa im Stich gelassen hatte. Immerhin hatte die Sehnsucht nach dem Meer endlich nachgelassen; seine Seele hatte wohl erkannt und akzeptiert, dass es kein Zurück mehr gab. Zumindest nicht, bis er seine Schwester gefunden hatte. Wenn er denn je die Suche nach ihr fortsetzen konnte.
Doch nachdem immer mehr Zeit verging, sah er ein, dass er keine Möglichkeit mehr hatte, jemals ihre Spur zu finden. Dann war das eben das Schicksal seines Lebens, er konnte es nicht ändern. Der Fluch seines Vaters zwang ihn zu suchen, selbst wenn Lurdèa gar nicht mehr am Leben sein sollte – oder sogar den Weg nach Hause schon gefunden hatte.
Jeden Tag entwarf Erenwin einen neuen Plan für seine Flucht, und jeden Tag vereitelte Laoren ihn. Es war ein immerwährender Wettkampf zwischen ihnen. Der Alte durfte niemals in seiner Aufmerksamkeit nachlassen, und der Nauraka würde niemals aufhören, ihn herauszufordern.
Erenwins Körper hatte sich durch die harte Arbeit gut an das Landleben angepasst, seine Muskeln waren prächtig entwickelt, und er war geschmeidig und schnell. Sobald er Gelegenheit dazu hatte, übte er heimlich mit einem Stock den Schwertkampf und hielt seinen Körper geschmeidig. An die Truhe mit seiner Kleidung und Lurions Schwert kam er nie heran, so oft er es auch versuchte. Allerdings verkaufte Laoren die Sachen auch nicht, obwohl er sonst so geldgierig war und schon eine Menge gehortet hatte, wofür auch immer, denn er gab nie etwas davon aus.
»Solange ich deinen Besitz habe, besitze ich dich«, gackerte der Alte, als Erenwin wieder einmal unter den Folgen eines fehlgeschlagenen Versuchs zu leiden hatte.
»Ich werde nie aufgeben, und du wirst bezahlen«, knurrte Erenwin. »Für jeden einzelnen Tag, den ich hier verbringen muss. Dein Ende ist schon nah, alter Mann.«
Dreihundert Mann zogen durch das Reich Morang und trieben die Steuern ein. Wer nicht zahlen konnte, wurde zum Frondienst gepresst. Manch einen traf dabei ein besseres Los als vorher, wenn er kräftig und jung genug war, denn dann wurde er eingezogen und erhielt gute Kleidung, bekam regelmäßig Nahrung und teilte Schläge aus, anstatt welche einzustecken.
Fangur führte eine kleine Truppe von zwanzig Mann an, die genügte, um das Gebiet an der Küste zu durchforsten. Hier lebten nicht viele Leute, und ohnehin war Fangur nur an einem einzigen Mann interessiert.
Laoren schien um keinen Tag in den vergangenen Jahren gealtert, als Fangurs Weg zu seiner Hütte führte. Alles sah genauso heruntergekommen wie immer aus, und der Alte lief in denselben Lumpen herum.
»Ich habe dich schon erwartet«, kicherte er, als Fangur das Pferd beim Brunnen parierte. Seine Männer warteten ein wenig abseits. »Du bist wie immer pünktlich.«
»Dann wirst du ja alles bereithaben, und ich muss mich nicht lange aufhalten.« Was Laoren zu bieten hatte, war nur Fangur vorbehalten, das Wenigste davon landete in der Steuertruhe. Die ausgewählten zwanzig Männer erhielten ihren Anteil und bewahrten Stillschweigen.
»Was ich diesmal für dich habe, wird dich sehr zufriedenstellen«, meinte der Alte.
»Was könntest du schon besitzen, das für mich von Interesse wäre?«, knurrte Fangur verächtlich.
»Ich habe ein interessantes Fischlein aus dem Meer gezogen.« Laoren ging in seine Hütte, Fangur hörte ihn mit Ketten rasseln, und dann weiteten sich seine Augen, als der Alte mit einem an den Händen gefesselten jungen, bartlosen Mann wieder herauskam.
So einen merkwürdigen Burschen hatte er noch nie gesehen. Er war hochgewachsen und schlank, besaß edle Gesichtszüge, doch er schien an einer schrecklichen Hautkrankheit zu leiden, denn
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