Nazigold
Sommer vergangenen Jahres hat er sie angerufen. Auch später telefonierten
sie oft miteinander, und gestern ließ er sie wissen, dass er nach Mittenwald
kommen würde, um den Mordfall Nafziger aufzuklären.
Als er jetzt vor ihrem Häuschen eintrifft, steht ein BMW vor der Tür, ein älteres Modell aus den dreißiger
Jahren. Der Wagen ist zweitürig, die Seitenwände rot, der vordere Kotflügel,
die Kühlerhaube und das Dach schwarz. An der Kühlerfront hat er zwei schmale
silberne Grills. Ein teures Auto.
Woher hat sie das Geld für so einen Wagen? Vorausgesetzt, es ist ihr
Wagen.
Weit kommt er nicht mit seinen Überlegungen, denn schon steht Theres
in der Tür und winkt ihn herein. Das erstaunt ihn. Früher ist sie immer freudig
herausgelaufen und hat ihn vor dem Haus begrüßt. Nun soll er schnell
hereinkommen.
Kaum steht er in der Diele, drückt sie die Haustür hinter ihm zu.
»Es ist besser, man sieht dich nicht bei mir«, sagt sie.
»Warum denn nicht?«
»Ist nicht gut.«
»Versteh ich nicht.«
»Der Ort hat tausend Augen. Da wird schnell viel Unsinn gequatscht.«
Jetzt erst beginnen sie ihr Begrüßungsritual, so, wie sie es seit
ihrer Jugend tun. Sie boxt kräftig gegen seine Schulter. »Na du narrischer
Gockel, wie viel Hennen hast du heut schon aufghupft?«
Er gibt mit einem leichten Faustschlag an ihre Schulter zurück: »Na
du spinnertes Huhn, wie viel Gockeln hast du heut schon aufhupfen lassen?«
Dann umarmen sie sich.
»Gut schaust aus, du Baazi.«
»Du auch, du Froscherl.« So nannte Gropper seine zwei Jahre jüngere
Schwester immer scherzhaft, als sie noch ihren Hof am Mühlbach hatten.
»Schmeichler.« Sie stupst ihn mit der Faust am Oberarm an.
Mit ihren vierunddreißig Jahren sieht Theres wirklich gut aus.
Früher trug sie ihre Haare zu einem Dutt hochgebunden. Da sah sie aus wie eine
strenge Religionslehrerin. Nun fällt ihr das gewellte dunkelblonde Haar offen
auf die Schultern. Das gibt ihr ein verführerisches Aussehen. Außerdem ist ihr
Gesicht geschminkt, doch nur andeutungsweise: Sie hat leichten Lidschatten und
ganz fein Wimperntusche aufgetragen, was ihre mandelförmigen Augen noch mehr
betont. Dazu die Lippen nachgezogen, über ihre Wangen ein dezentes Rot
hingehuscht und die Haut dünn mit Puder bestäubt. Das machte sie früher nie.
Wäre sie nicht seine Schwester, würde er sie eine begehrenswerte
Frau nennen. Sicher gibt es viele Männer, die sie mit ihrem Reiz anstachelt und
die sich zu einem Abenteuer mit ihr verlocken lassen würden. Ihr kokettes
Aussehen steht jedoch ganz im Gegensatz zu ihrer jungenhaften Art, ihn mit
ihren derben Bemerkungen anzuboxen. Dieses Verhalten stammt aus früheren
Jahren. Als sie noch Kinder und Jugendliche waren, kletterte seine burschikose
Schwester mit ihm über die Zäune, um eines ihrer Schafe zu befreien, das sich
mit seinem Seil um einen Baum gewickelt hatte und nicht mehr loskam. Oder stand
im klatschnassen Rock in der Isar und griff nach den Fischen. Oder kraxelte so
hoch wie möglich auf Bäume, um auf den gefährlich wippenden Ästen Schiff im
Sturm auf hoher See zu spielen. Schade, dass sie damals keine Pferde hatten.
Sicher wäre sie schon als Kind wie wild über die Weide galoppiert. Ein echtes
Landkind ist sie gewesen, gesund, lustig und so schrecklich katholisch. Und nun
so damenhaft und voller Reize. Ihm fällt es schwer zu verstehen, dass nicht
mehr die kleine, kecke Schwester vor ihm steht, sondern eine erwachsene,
erotische Frau.
Wie immer lassen sie sich in der Küche nieder. Nicht im Wohnzimmer
nebenan. Da führt man nur die Fremden hin. Im großen Radioapparat auf der
Kommode läuft der Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes. »Gesucht wird …
Zuletzt gesehen in … Zweckdienliche Angaben … München Infanteriestraße …
Gesucht wird … Zuletzt gesehen in …« Theres schaltet aus.
Er sieht sich um. Früher standen hier ein Kohleofen mit eingebautem
Wassergrantl, in dem das Wasser siedete, ein alter Küchenschrank mit einem
Aufsatz, eine Holzbank und auf dem Fensterbrett ein Kästchen mit grünem
Fliegengitter für Wurst und Käse. Jetzt gibt es stattdessen einen Elektroofen
mit Kochplatten, einen elektrischen Wasserkocher, einen neuen Küchenschrank aus
Resopal, einen Kühlschrank und eine neumodische Couchgarnitur.
Woher hat sie so viel Geld?, fragt sich Gropper.
Theres scheint in seinem Gesicht zu lesen. »Ich verdien doch. Hab
oben im ersten Stock meine Logiergäste. Flüchtlingsbagage. Die Gemeinde
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