Neandermord
wartete, während ich zusah, wie einige Wagen auf dem Weg in die Siedlung an mir vorbeifuhren. Der Pendlerverkehr setzte wohl langsam ein.
»Ist da Rott?«, fragte eine Stimme. Sie klang wie durch Watte. Der uralte Trick, durch ein Taschentuch zu sprechen, um sich zu verstellen.
»Ja, hier ist Rott.«
Wieder machte der Anrufer eine Pause.
»Ich gebe dir einen guten Rat, Rott«, sagte er schließlich. »Stell dich der Polizei.«
»Warum sollte ich das tun?«
»Weil du keine Chance hast.«
Ich kannte die Stimme. Es war der Mann, der mich im Schwimmbad angerufen hatte.
Das war erst einen Tag her. Mir kam es vor, als seien mittlerweile Wochen vergangen.
In der Leitung war es wieder still. Dann begann es zu tuten. Der Unbekannte hatte aufgelegt.
*
Ein paar Minuten später rollte ich durch eine Straße mit rötlich verklinkerten Reihenhäusern. Mit Fenstern, an denen die Gardinen gerade hingen. Wo Topfpflanzen hinter den Scheiben standen, die so aussahen, als hätte man sie in ein Terrarium gesperrt. Man hörte förmlich, wie sie um Hilfe schrien: Lasst uns raus!
Ich stellte den R4 ordentlich auf einem weiß umrahmten Feld ab und legte zu Fuß die letzten Meter zu dem Haus zurück, in dem Rosa hoffentlich immer noch wohnte. Ich erklomm eine Betontreppe bis zu einer Eingangstür aus gelblich getöntem geriffeltem Glas. Es erinnerte an erstarrten Rotz.
Neben der Tür hing ein blaues Tonschild mit eingravierten, goldfarben ausgemalten Buchstaben.
»ROSA WALSCHEWSKY - KLAVIERPÄDAGOGIN«.
Ich lauschte. Aus dem Inneren des Hauses drang zögerliches Geklimper. Rosa gab Unterricht. Also war sie zu Hause.
Ich klingelte. Hoffentlich öffnet sie überhaupt, wenn sie gerade Stunden gibt, dachte ich. Notfalls musste ich Sturm klingeln.
Ich wollte gerade noch mal drücken, da ging die Tür ein Stück weit auf und Rosa steckte ihren Kopf heraus.
Es war eine Weile her, dass ich sie das letzte Mal gesehen hatte, aber sie hatte sich so wenig verändert wie eine Schaufensterpuppe. Obwohl sie mindestens fünfundsiebzig sein musste, wies ihr Gesicht kaum Falten auf. Ihr dichtes schwarzes Haar war mit Farbe und Haarfestiger quasi in ewiger dunkler Erstarrung mumifiziert. Sie hatte dieselben Schleifen im Haar wie bei unserer letzten Begegnung, und auch das weiße Taftkleid, in dem sie wirkte wie eine gespenstisch überalterte Braut, hatte ich schon vor zehn Jahren an ihr gesehen.
»Ich unterrichte gerade«, sagte sie, ohne mich zu begrüßen. Man wusste nie, ob sie einen nicht erkannte oder nicht erkennen wollte. Oder ob man das Kennwort sagen musste, damit sie einen erkannte.
Ich gab mir Mühe, bei der Aussprache nicht zu stolpern.
»Passacaglia«, sagte ich.
Ihr Gesichtsausdruck änderte sich nicht, aber sie öffnete wenigstens die Tür.
»Es geht gerade nicht«, sagte sie. Das »ch« bewältigte sie nicht ohne rauen Akzent. »Wie gesagt, ich habe einen Schüler.«
Die geöffnete Tür gab den Blick ins Haus frei. Über den Flur ging es hinten ins Wohnzimmer, aus dem immer noch Geklimper drang. Der Eleve hatte sich wohl an einer Stelle festgebissen und wiederholte sie hartnäckig. Das Ergebnis erinnerte mich an das Bild eines Hamsters in seinem Rad.
»Rosa, es ist sehr dringend«, sagte ich. »Wirklich.«
Sie nickte. »Schon gut. Ist es immer. Geh in den Keiler. Ich komme gleich nach.«
Die Tür ging so weit auf, dass ich das Haus betreten konnte. Direkt vom Flur zweigte die Kellertreppe ab. Eng und niedrig. Ich zog den Kopf ein und erreichte einen Raum mit Putzeimern, Wasserleitungen und Vorräten.
»Üb weiter, Sascha«, sagte Rosas Stimme über mir. »Ich bin gleich wieder da.«
Das ausladende Kleid schleifte an der grob verputzten Wand, als Rosa die Treppe herunterkam. Dann stand sie vor mir. Im Licht der einzigen Funzel hier unten wirkte sie wie eine Figur aus einem Schauerroman. Spontan fielen mir Titel ein. »Die Kellerbraut«. »Das Grab der weißen Frau«. »Die Virtuosin aus der Gruft«.
»Komm mit.« Sie raschelte vor mir her, und ich folgte ihr einen Gang entlang. Ich versuchte, mich an meinen letzten Besuch zu erinnern. Mir kam es so vor, als seien wir damals nicht hier im Keller, sondern im Garten gewesen. Richtig, sie hatte mich zu einem Gartenhäuschen geführt…
»Hast du umgeräumt?«, fragte ich.
»Muss ab und zu sein. Es war viel Arbeit. Ich musste alles in der Nacht hier reinschaffen. Ach, wenn Gregor doch noch hier wäre …«
Wir blieben stehen, und sie öffnete eine
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