Nebelflut (German Edition)
schloss die Lider, konnte sich jedoch nicht vollkommen auf seine Freundin konzentrieren. Etwas irritierte ihn. Die Stille. Eigentlich hätte Amy längst schreiend und kreischend vor die Tür hämmern müssen.
Langsam drehte er den Kopf zum Erkerfenster und sein Herz schien stehen zu bleiben. Dort, an der Scheibe direkt neben der Tür, war im Feuerschein des Kamins ein fettiger Abdruck zu erkennen, so als hätte jemand von außen seine Stirn gegen das Glas gedrückt.
»Was hast du?«
Patrick befreite sich aus Mollys Umarmung, riss die Tür auf und stürmte nach draußen.
-86-
Jahrelang hatte sich Patrick nicht gestattet, an diese Nacht zu denken und doch waren ihm all ihre Details im Gedächtnis geblieben. Amys vorwurfsvoller Blick. Ihre Schutzlosigkeit. Ihr kindlicher Zorn. Die unverhohlene Bestürzung, mit der sie ihrem Teddy hinterhergelaufen war. Gott, er war ein Monster gewesen. Er hatte sie hinaus gestoßen, hatte sie dem schwarzen Mann überlassen. Dabei hätte er sie beschützen sollen. Es wäre seine Pflicht gewesen. Er erinnerte sich genau an den Schock, den er verspürt hatte, als er den Abdruck an der Scheibe gesehen hatte. Und an das schlechte Gewissen, als er ihn im Morgengrauen weggewischt hatte.
Molly und er waren gleich losgelaufen, hatten das ganze Grundstück und den Wald nach ihr durchkämmt, aber da hatte es schon keine Spur mehr von ihr gegeben. In den frühen Morgenstunden hatte er Molly nach Hause geschickt, vollkommen kopflos und aufgewühlt. Er hatte sich seiner Tat geschämt und es nicht über sich gebracht, jemandem zu sagen, was geschehen war. Also hatte er seine Eltern angerufen und sie belogen, dass Amy aus ihrem Bett verschwunden sei. In den darauffolgenden Wochen hatte eine Suchaktion die andere gejagt. Die Bürger von Glencullen hatten sich zusammengeschlossen und die Polizei nach Kräften unterstützt. Doch weder Hunde noch Hubschrauber hatten Amy aufgespürt.
Während er an der Bushaltestelle saß und auf Grace wartete, zogen die vergangenen Jahre wie ein Film an ihm vorbei. Wie oft hatte er versucht, sein Tun vor sich selbst zu rechtfertigen? Wie oft hatte er sich gesagt, dass er erst fünfzehn gewesen war, ein verliebter Teenager, der nichts von der Bedrohung gewusst hatte, die da draußen auf sie wartete? Aber diese Entschuldigungsversuche hatten nie etwas geändert und sie änderten auch jetzt nichts. Das Gesetz von Aktion und Reaktion war ein Fakt – kalt, aber unbestreitbar. Wenn er sie nicht aus dem Haus gejagt hätte, wäre sie nicht verschwunden. So einfach, so klar, so grausam war das.
Der Wagen von Graces Vater war der erste und einzige, der hier vorbeikam, seit Patrick den Waldrand erreicht hatte.
Sie hielt direkt vor ihm und blickte ihn durchs Autofenster an, prüfend und lauernd, aber ohne Wut, ohne Vorwurf in den Augen. Patrick spürte auf einmal schmerzlich, wie sehr er sie und Tammie vermisste.
Er stieg ein und schnallte sich an. »Hey.«
»Hey.« Sie machte keine Anstalten loszufahren. »Du hast gesagt, du erklärst mir alles.«
»Das werd ich auch. Auf der Fahrt. Komm schon, wir haben keine Zeit zu verlieren.«
Endlich gab sie Gas und für eine ganze Weile sagte keiner von ihnen etwas. Patrick hing seinen Gedanken nach. Er hoffte, dass er es schaffen würde, mit dem Narbenmann zu sprechen. Dass er es schaffte, Licht ins Dunkel zu bringen und einen Schlussstrich unter die ganze Sache zu ziehen, bevor sich die Polizei wieder auf ihn stürzte. Er wollte, dass zumindest seine Eltern endlich mit alldem abschließen konnten.
»Ich hab deine Mutter angerufen«, gab Grace ganz unvermittelt zu.
»Ich weiß. Du hast sie beide ganz schön in Aufruhr versetzt.«
»Das meine ich nicht. Ich meine jetzt gerade.«
Schnell blickte er zu ihr herüber. »Was soll das heißen?«
»Ich hab mir gedacht, dass du bei ihnen warst und mich gewundert, warum du nicht mit deinem eigenen Auto zurück nach Dublin fährst.«
»Tja, jetzt weißt du’s.«
»Nein, ehrlich gesagt nicht!« Sie klang ungehalten. »Wenn du so unschuldig bist, wie ich hoffe, dann hättest du einfach deinen Wagen nehmen und fahren können. Du hättest dich nicht an der Polizei vorbei aus dem Haus schleichen müssen wie ein–«
»Wie ein was ?« Patrick starrte Grace an, obwohl er selbst nicht wusste, was er jetzt von ihr hören wollte.
Grace blickte nach vorn, aber er sah ihr trotzdem an, wie aufgewühlt sie war. »Ich liebe dich, Patrick.«
Ihre Worte trafen ihn wie ein Schlag ins
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