Nebelflut (German Edition)
ihrem Kidnapper selbst die Tür geöffnet haben muss.«
»Und Ihr Sohn? Hat er gar nichts mitbekommen?«
»Der hat geschlafen. Paddy hatte schon immer einen festen Schlaf.«
Patrick spürte, wie ihm schwindelig wurde. Die Treppe und die dahinter liegende Diele drehten sich vor seinen Augen, das Fenster stierte ihn an wie ein einzelnes, bösartiges Auge und der Ausdruck darin sagte: Ich kenne dein Geheimnis.
Patricks Puls raste. Was, wenn sie dahinterkamen? Was, wenn der Polizist es längst wusste und nur auf den passenden Moment wartete, es seinen Eltern zu sagen? Die Wahrheit würde sie umbringen, da war er sich sicher. Und noch etwas war ihm klar: Die Polizei durfte ihn auf keinen Fall hier vorfinden, denn wenn sie ihn noch einmal befragten, würde er nicht die Kraft haben, seine Lügen von damals zu erneuern. Lügen, die aus Angst und Schockiertheit entstanden waren und deren Nährboden während der letzten neunzehn Jahre gründlich zerfressen worden war.
Er raffte sein letztes bisschen Selbstbeherrschung zusammen und schlich sich die Treppe herunter, während der Beamte sein Verhör ungerührt fortsetzte.
»Ist Ihnen im Vorfeld der Entführung irgendetwas an Ihrer Tochter aufgefallen? Hat sie sich anders verhalten als sonst?«
»Ich bitte Sie. Amy war sechs !«
»Doch, Jack, da war etwas.«
Patrick erreichte die Diele und schlich weiter in die Küche.
»In den Wochen bevor sie verschwand, und das haben wir auch damals schon zu Protokoll gegeben, sprach sie oft von einem schwarzen Mann, der sie beobachtet.«
»Von einem schwarzen Mann? Naja, von dem sprechen alle Kinder irgendwann …«
Patricks zitternde Hand senkte sich auf die Klinke der Hintertür, die raus in den Garten führte.
»Aber nicht alle Kinder verschwinden spurlos, Detective.«
Patrick riss die Tür auf, stürmte aus dem Haus und rannte auf den Wald zu, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzudrehen.
-84-
Wenn man den Wald erstmal betreten hatte, büßte er einiges von seinem Schrecken ein. Vereinzelte Vögel flatterten zwischen den kahlen Ästen hin und her und ab und zu knackte es im Unterholz. Nicht dieser Ort war schuld an Amys Schicksal, nicht im Geringsten. Auch wenn er damals das Gefühl gehabt hatte, dass er oder etwas Boshaftes, das ihm innewohnte, sich seine Schwester geholt hatte, so wusste er jetzt, dass der Wald nur eine Ausflucht gewesen war. Es hatte so viele Ausflüchte gegeben in seinem Leben.
Er blieb stehen, blickte sich schwer atmend in alle Richtungen um. Niemand schien ihm zu folgen, also ließ er sich zu Boden sinken und lehnte sich gegen einen der Bäume.
Die Polizisten waren nun also doch wieder auf ihn gekommen und zum ersten Mal ließ Patrick die Frage zu, die er vielleicht schon seit Weihnachten irgendwo im Hinterkopf hatte: War es möglich? Bestand auch nur der Hauch einer Chance, dass er derjenige war, der diese beiden Menschen umgebracht hatte? Vielleicht war es so, wie McCarthy und Callahan glaubten. Vielleicht war er noch in der Nacht des fünfundzwanzigsten zum Camac gefahren und auf die Farm gestoßen. Vielleicht hatte er den bärtigen Mann gefoltert und kannte längst die ganze Wahrheit über Amy, wollte sie nur nicht wahrhaben. War ihm der Getötete nicht ein bisschen bekannt vorgekommen, als die Polizisten ihm sein Bild gezeigt hatten? Hatte es nicht einen kurzen Funken des Erkennens in seinem Hirn gegeben?
Es half nichts. Es gab nach wie vor nur einen Weg, der Sinn machte. Er musste den Mann mit der Narbe sprechen, der, wenn Patrick die Worte des Polizisten richtig deutete, ebenfalls ein Entführungsopfer war. Der offenbar auf der Flucht war und hoffentlich die ganze Wahrheit kannte.
Patrick atmete ein paar Mal tief durch, ließ zu, dass sich sein Körper halbwegs beruhigte. Dann holte er sein Handy aus der Tasche und schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es mittlerweile getrocknet war. Als er es einschaltete, entdeckte er Wasserflecken unter der Displayoberfläche, doch es funktionierte. Dass er telefonieren konnte, war für ihn wie ein Zeichen, auf dem richtigen Weg zu sein. Er suchte mit zitternden Fingern die Nummer heraus und hielt sich das kühle Metallgehäuse ans Ohr.
» ja?« Grace klang verwundert. Ihre Stimme hatte an Kraft verloren, seit sie das letzte Mal gesprochen hatten.
»Grace? Hör bitte zu, kannst du …«
Sie unterbrach ihn nicht.
»Kannst du mich in Glencullen abholen? Jetzt gleich?«
»Ist alles in Ordnung mit dir, Patrick?«
»Ja, es geht mir gut. Ich kann
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