Nebelflut (German Edition)
Dann würde sie sich all das wünschen, was ihr hier fehlte und dass sie es für immer behalten dürfte.
Über die Schulter ihrer falschen Mutter sah Amy, wie der Junge sich umdrehte. Dicke, schwarze Fäden zogen sich durch seine Wange und seine Hände waren voller Blut. Er starrte Amy an, vielleicht wollte er ihr irgendetwas mitteilen, aber seine Augen blieben leer.
-94-
Die Schaffarm lag stockfinster vor ihm. Nur der Mond sorgte für etwas Sicht. Brady hatte das Wagenlicht ausgeschaltet und war die letzten Meter im Schritttempo gefahren. Er wollte nicht das Risiko eingehen, gesehen zu werden.
So leise er konnte, stieg er aus dem Auto und ließ die Wagentür offen. Er umklammerte die Dienstwaffe mit einer Hand und wunderte sich darüber, wie er mit jedem Schritt, den er vorwärts tat, ruhiger wurde. Vielleicht war es Selbstschutz. Sein Herz hatte auf dem Weg hierher derart schnell geschlagen, dass Brady sich fragte, wie lange es dieses Tempo durchhalten mochte. Jetzt war es in einen langsamen, gleichmäßigen Rhythmus verfallen.
Brady schlich zum Hintereingang des Hauses. Nun hieß es Abwägen. Sollte er das dunkle Gebäude samt Stall durchsuchen, in der Hoffnung, auf Chloe und Namara zu stoßen? Oder sollte er lautstark nach ihr rufen? Die erste Möglichkeit nahm zu viel Zeit in Anspruch und konnte zur Folge haben, dass Chloe bereits tot war, bevor er sie fand. Die zweite Möglichkeit barg das Risiko, dass Namara Chloe aus Panik umbrachte. Einfach aus dem Grund, weil er Brady kommen hörte. Er hatte sein Handy ausgeschaltet, da ihn während der Fahrt mehrere Anrufe von Sean erreicht hatten und er sich nicht durch das Klingeln verraten wollte. Doch insgeheim wäre er nun froh über den Rat und die Anwesenheit seines Partners gewesen. Auch wenn er es ungern zugab, hatte der Alte doch bisher immer recht gehabt.
Keine Zeit für Bedauern. Aus der Scheune waren Schritte zu hören und sie ließen Brady herumfahren. Er wusste, dass diese nicht von den Schafen kommen konnte. Die Tiere waren schon vor vielen Tagen vom Tierschutz weggebracht worden und so blieben nur zwei Möglichkeiten: Entweder Chloe oder Patrick Namara befanden sich im ehemaligen Schafstall.
Geduckt huschte Brady zu dem alten Gebäude herüber. Dabei hielt er sich so nah es ging an den Wänden des Haupthauses, um nicht gesehen zu werden. Er konnte nur hoffen, dass Chloe noch am Leben war. Etwas tief in ihm sagte ihm, dass es so war. Dass sie noch lebte und er nicht zu spät kam.
Brady schlich zum Scheunentor, das nur angelehnt war. Drinnen sah er einen Schatten aufgeregt hin- und herlaufen.
»Doktor Namara, keine Bewegung!« Brady stieß die Tür auf und richtete die Waffe auf die menschliche Silhouette direkt vor sich.
»Ich bin hier!« Es war Chloes Stimme, die von der anderen Seite der Scheune an sein Ohr drang.
»Chloe!«
»Sophie?« Doktor Namara fuhr zu Chloe herum und schien sie selbst erst in diesem Moment zu entdecken. Brady hatte keine Ahnung, weshalb er sie so nannte. Vielleicht war es eine Folge seiner Geistesgestörtheit, vielleicht Teil eines perfiden Spiels. Brady hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, denn der Doktor fuhr zu ihm herum und entsicherte eine Pistole, die er in der Hand hielt.
Brady zielte, so gut es seine Augen in der Dunkelheit zuließen. Der Knall zerriss die Nacht und Doktor Namara wurde in einen der Heuballen geschleudert, die neben der Wand aufgetürmt waren. Brady setzte ihm nach und trat ihm die Waffe aus der Hand. In der Dunkelheit konnte er sehen, dass sie aus Namaras Nähe rutschte und das reichte ihm. Er richtete seine eigene Pistole auf den Kopf des Doktors und trat näher. Patrick Namara lag reglos am Boden und blutete aus einer Wunde in seiner Brust. Anstatt zu atmen, röchelte er nur, seine Augen waren geschlossen und er schien nicht bei Bewusstsein zu sein.
Brady schaute sich nach Chloe um und entdeckte sie auf dem Boden einer Box, dicht an den Zaun gedrängt.
»Chloe, bist du in Ordnung?« Brady hockte sich vor sie und strich ihr eine Haarsträhne aus der Stirn. Ihre Haut fühlte sich fiebrig und schweißnass an und ihr Atem ging stoßweise.
»Er wollte mich töten«, wimmerte sie. »Er wollte mich umbringen …«
»Sssh … Es ist vorbei, er kann dir nichts mehr tun.« Brady schloss Chloe in die Arme. »Bist du verletzt?«
Sie schüttelte den Kopf, aber so aufgewühlt wie sie wirkte, war er sich nicht sicher, dass sie seine Frage überhaupt verstand.
»Bleib einfach hier sitzen, Chloe.
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