Nebelflut (German Edition)
öffnete sie behutsam.
Der Stall war leer, wie Patrick vermutet hatte. Sämtliche Boxen waren verlassen und einzig der Geruch nach Heu und Mist erinnerte daran, dass hier bis vor Kurzem Tiere gelebt hatten. Er machte ein paar Schritte vorwärts, die Waffe fest in der Hand, doch er konnte unmöglich gleich die ganze Stallung einsehen. Die Boxen waren durch Bretterzäune voneinander abgetrennt, an den Wänden waren Heuballen aufgeschichtet und sorgten dafür, dass es mehr Schatten und verwinkelte Ecken als nötig gab. Patrick betete, dass sie hier war und dass er sie lebend finden würde.
-93-
Ewigkeit. Vor ihrer Zeit im Keller hatte Amy nie verstanden, was dieses Wort bedeutete. Sie hatte gedacht, die Zeit, die man Weihnachten auf seine Geschenke warten musste, wäre eine Ewigkeit. Jetzt wusste sie es besser. Als Douglas sie schließlich holte, waren ihre Hände kalt und tot und ihr Kopf war viel zu schwer für ihre Schultern. In der Küche, dort, wo Mary meistens war, versuchte er, sie auf einen Stuhl zu setzen.
»Los, halt sie fest«, fuhr Mary ihn an. Es war komisch, ihre Stimme zu hören, nach so langer Zeit. Irgendwie schön, denn auch wenn Mary sie in den Keller geschickt hatte, hatte sie ihr noch nie wehgetan und hatte ihr bis jetzt immer zu essen und zu trinken gegeben.
Amy hörte, wie ein Stuhl über den Boden gezogen wurde. Dann Marys Stimme. »Sieh mich an.«
Sie versuchte, den Kopf zu heben, doch ihr Kinn schien an ihrer Brust zu kleben.
»Sieh mich an, Albia.«
Sie musste es schaffen. Sie durfte nicht zulassen, dass Mary wieder böse wurde. Mühsam und unendlich langsam richtete sie sich auf und öffnete die Augen. Es war Abend und es brannten nur ein paar Kerzen, das Licht war viel weniger schlimm, als sie geglaubt hatte.
Mary saß vor ihr und sah sie an. »So ist es gut. Du bist ein braves Mädchen.«
Amy blickte sich um. Hinter Mary stand der Junge und zerteilte auf der Küchentheke ein Tier. Amy hatte das schon gesehen, vor einer Ewigkeit, kurz nachdem sie sie aus dem Zimmer gelassen hatten. Das Tier hatte kein Fell mehr, es sah aber aus wie ein kleiner Hund.
»Brav und wissbegierig.« Mary lächelte. »So war ich auch als kleines Mädchen. Und ich wusste immer, dass ich eine Tochter kriegen würde, die genauso ist.«
Ihr Blick wurde ernster. Der Junge hörte mit dem Schneiden auf und Douglas’ Griff wurde fester. Beide schienen sich auf einmal sehr unwohl zu fühlen, als ob sie glaubten, dass jetzt etwas Schlimmes passierte. Dann winkte Mary ab und beide entspannten sich wieder.
»Ich habe mit meinen Eltern auch auf einer Farm gelebt. Mit ihnen und meinen zwei Brüdern, weißt du?« Sie lachte. Es war das erste Mal, dass Amy sie lachen hörte. »Nein. Natürlich nicht, woher auch? Es war eine Farm wie diese hier, nur dass wir keine Schafe hatten. Wir hatten Weizenfelder, meilenweit, überall um uns herum. Wir waren so glücklich.« Sie strich Amy eine verfilzte Haarsträhne aus dem Gesicht. Etwas in Amy sagte ihr, dass sie es geschehen lassen musste. Sie wusste, was für ein Glück sie hatte, dass der Junge sich nicht getraut hatte, sie umzubringen. Dieses Glück musste sie bewahren.
»Dann, eines Nachts, wurde ich davon wach, dass sich ein Auto unserer Farm näherte. Dann klirrte Glas und dann hörte ich Schreie …« Mary streichelte Amy über die Wange. Ihre Finger waren so kalt wie die des Jungen. »… und dann wurde auf einmal die Tür zu meinem Zimmer aufgerissen. Ich hatte ein hübsches Zimmer, mit Spitzengardinen und einer kleinen Blume auf der Fensterbank, die …« Mary schüttelte den Kopf und ließ die Hand sinken. »Ein sehr böser Mann kam in mein Zimmer, Albia. Und er machte sehr böse Dinge mit mir.«
»Der schwarze Mann«, entfuhr es Amy und sie presste sofort die Lippen aufeinander.
»Ja …« Mary lächelte. »Ja, der schwarze Mann. Er und seine Freunde haben mir meine Eltern weggenommen. Aber das ist jetzt nicht mehr schlimm. Jetzt bin ich selbst Mutter und du bist meine Tochter. Verstehst du?«
Amy wollte nicht, aber sie glaubte, dass sie verstand. »Ja, Mutter«, sagte sie.
Mary beugte sich zu ihr herüber und nahm sie in die Arme. Sie ließ es geschehen, weil sie hoffte, dass sie dann endlich etwas zu trinken bekam. Mit der Zunge fuhr sie durch ihren trockenen Mund und spürte, dass ein Backenzahn locker war. Sie glaubte nicht, dass sie einen Wunsch frei hatte, aber sie nahm sich vor, die Zähne aufzubewahren für den Tag, an dem ihre echte Mutter sie fand.
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