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Nebelflut (German Edition)

Nebelflut (German Edition)

Titel: Nebelflut (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nadine d’Arachart
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mit lauter Stimme verkündet, dass ihn seine Frau um fünf besuchen würde. Grace. Er hoffte, dass das heute gewesen war. Er musste sie sehen, mit ihr sprechen, sich für alles, was er getan hatte, entschuldigen. Wie spät mochte es sein?
    Er öffnete die Augen und grelles Licht stach ihm ins Hirn. Scheinbar war es Tag. Seine Augen brauchten eine Weile, um sich scharf zu stellen, minutenlang erkannte er nur eine weiße, verschwommene Krankenhausmasse. Dann nahm er eine Bewegung neben seinem Bett wahr.
    »Grace?« Er erschrak über seine eigene Stimme, die man eigentlich gar nicht als solche bezeichnen konnte. Sie klang rau und heiser wie die eines Hundertjährigen, der sein Leben lang gebrüllt hatte.
    »Tut mir Leid, da muss ich dich enttäuschen.«
    Es war die Stimme einer Frau, aber tatsächlich ganz eindeutig nicht die von Grace. Patrick kniff die Augen zusammen, doch alles was er erkannte, waren dunkle, lange Haare und darunter eine blasse Fläche.
    »Wer …« Er brachte es nicht fertig, weiter zu reden.
    »Glaub mir, ich weiß, wie sich das anfühlt.«
    Ein Glas wurde an seine Lippen gehalten und er trank gierig. Dann versuchte er erneut, die dunkelhaarige Frau auszumachen. »… hast du … dir die Haare gefärbt, Gracie?«
    »Bist du tatsächlich so schwer von Begriff?«
    In der Stimme der Frau schwang jetzt Wut mit und Patrick erinnerte sich dunkel, sie schon einmal gehört zu haben.
    Es gibt keine Chloe , hatte sie gesagt. McCarthy hatte sie so genannt, in der Scheune, wo er auf Patrick geschossen hatte. Aber wieso? Sie hieß Sophie. Es wollte Patrick nicht gelingen, die Zusammenhänge zu verstehen. Sophie war blond gewesen, seine Besucherin hatte dunkles Haar …
    »Patrick.« Sie strich ihm das Haar aus der Stirn und beugte sich über ihn. Jetzt konnte er sie etwas besser erkennen. Tatsächlich, es war Sophie, aber sie hatte ihr Haar dunkel gefärbt. Und sie trug eine weiße Schwesternuniform.
    »Weißt du denn immer noch nicht, wer ich bin?« Ihr Blick war vorwurfsvoll. Es waren diese vorwurfsvollen braunen Augen, die ihn endlich verstehen ließen.
    »Nein«, entfuhr es ihm und das war alles, wozu er fähig war. Der Schock, den die Erkenntnis mit sich brachte, fegte sämtliche Empfindungen, sämtliche Gedanken aus ihm heraus und ließ ihn so leer zurück, dass er einen Moment lang glaubte, gestorben zu sein. Dann schlich sich die Erkenntnis langsam weiter in sein Hirn. Sie lebte.
    »Amy.« Er hob die Hand und tastete nach ihr, musste sich erstmal davon überzeugen, dass sie real war. »Das ist unmöglich …«
    Für den Bruchteil einer Sekunde lächelte sie, dann nahm sie seine Hand und legte sie zurück auf die Decke. »Und? Bist du jetzt froh?« Ihre Worte klangen seltsam leer, wie einstudiert.
    »Bist … bist du okay, Amy?«
    Sie starrte ihn an. Sie sah noch genauso aus wie damals. Wie hatte er so blind sein können? Und wieso hatte sie sich derart verkleidet und sich bei ihm als Kindermädchen eingeschlichen? Tausend Fragen brannten ihm auf der Zunge, aber er war zu fassungslos, um sie zu stellen. Er wollte nur hören, dass es ihr gut ging. Dass sie vielleicht bei anderen Eltern aufgewachsen war, dass sie ihre eigene Familie vielleicht vermisst hatte, aber dass ihr nicht die Dinge zugestoßen waren, die sie alle die ganze Zeit über befürchtet hatten.
    »Das hängt wohl ganz davon ab, wie man okay definiert.« Amy stand auf und machte ein paar Schritte durchs Krankenzimmer. Sie bewegte sich lautlos, geschmeidig. Wie jemand, der gelernt hatte, auf der Hut zu sein.
    »… es tut mir so leid, Amy …« Er konnte nicht aufhören, ihren Namen zu sagen. Er konnte nicht aufhören, sich zu sagen, dass sie lebte. Und gleichzeitig wusste er, dass die Erleichterung, die er darüber empfand, trügerisch war.
    »Ja, tut es dir leid?« Sie drehte sich zu ihm herum und blieb stehen. »Tut es dir leid, dass du mir nicht geglaubt hast? Dass du mich diesen Verrückten in die Arme getrieben hast?«
    »Welchen …« Seine Stimme versagte. »Was ist dir nur zugestoßen?«
    »Wenn man so will …« Sie setzte sich wieder, verschränkte die Arme. »… habe ich eine harte, gute Schule durchlaufen. Ich lernte, Rollen zu spielen. Ich lernte, auf der Hut zu sein. Ich lernte zu kämpfen. Ich hatte einen Bruder, der mich hasste. Sobald unsere Mutter außer Sichtweite war, versuchte er, mich fertig zu machen. Ihn habe ich mir bis zum Schluss aufbewahrt.«
    Patrick spürte sein Herz schmerzhaft gegen seine Brust donnern. »Du?

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