Nebelflut (German Edition)
spürte, wie sich mit jedem Vor- und Zurückwogen der Brandung etwas mehr Sand an seinen Schuhen festsetzte. Wie das Wasser, das immer noch stieg, seine Unterarme umspülte. Er musste sich noch nicht einmal rühren. Alles würde hier ganz von allein ein Ende finden.
Patrick schloss die Augen und Amys Foto, das sich bei dem Verhör unauslöschbar in sein Gehirn gebrannt zu haben schien, tauchte vor seinem inneren Auge auf. Er sah das Bild mit einer ungewohnten Klarheit, als schauten ihn Amys dunkle Augen tatsächlich an. Als seien sie durch undurchschaubare Kanäle auf einmal wieder verbunden.
Er fragte sich, ob es für Amy einen solchen Moment gegeben hatte. Einen Moment der Entscheidung: Aufgeben oder weiterkämpfen. Er fragte sich, ob sie beschlossen hatte, zu kämpfen und wie es gewesen sein musste, als sie schließlich doch verloren hatte. Als sie schließlich doch erschlagen, erstochen, erwürgt oder auf welche grausame Art und Weise auch immer unwiederbringlich vernichtet worden war.
Empfindungen brandeten in ihm auf, die er längst vergessen zu haben glaubte. Er fühlte sich für Amy verraten, fühlte sich für sie wütend und machtlos und war für sie traurig. Gerade die Schuld, die ihn die meiste Zeit seines Lebens über wie ein Fels zu Boden zu drücken schien, trieb ihn nun an, die Dinge nicht einfach enden zu lassen. Er stellte sich vor, wie Amy um ihr Leben gekämpft hatte. Sie war erst sechs gewesen. Ihr Bild war immer noch da, schien ihn immer noch anzugucken. Und die Schuld brachte ihn dazu, sich vor ihr zu schämen, weil er hier im Wasser stand und drauf und dran war, gegen sein eigenes Leben zu kämpfen. Und die Scham brachte ihn dazu, sich in Bewegung zu setzen.
-61-
Seit sie hier herunter gebracht worden war, wünschte sich Amy, wieder in dem Zimmer zu sein. In dem Zimmer hatte es wenigstens ein Bett und ein Fenster gegeben. Hier gab es nur Gitter und Ketten und die meiste Zeit war es dunkel. So stellte sich Amy ein Gefängnis vor. Ihr tat alles weh und der Durst war wieder da. Durst und Heimweh fühlten sich ähnlich an, das hatte sie gelernt, seit sie hier war. Und sie wusste immer noch nicht, warum sie hier sein musste. Sie wusste, dass sie nicht ihren Namen oder ihre Familie vergessen würde, nur weil Mary sie in diesen Raum sperren ließ. Sie würde immer wissen wer sie war, immer. Sie würde zurück nach Hause kommen und immer noch ihren Namen wissen.
Auf einmal ging die Tür auf und Amys Herz setzte für ein paar Sekunden aus. Sie war genug bestraft worden. Douglas würde sie jetzt hier rausholen. Dann sah sie, dass es nicht der schwarze Mann war, sondern das andere Kind war. Der Junge. Er kam näher, blieb vor den Gittern stehen.
»Hallo Albia.«
»Ich heiße …«
Mit der flachen Hand schlug er gegen die Stäbe. Das Rasseln tat in Amys Kopf weh.
»… kannst du mich losmachen? Bitte?«
Der Junge sagte nichts, aber er zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und öffnete die Gittertür. Aufgeregt sah ihm Amy zu, wie er die Tür hinter sich schloss und näher kam. Vor ihr blieb er stehen. »Hallo Albia.«
Neue Tränen schossen ihr in die Augen. »Ich bin nicht Albia. Ich bin Amy. Ich …« Ihre Stimme versagte, wurde wieder zu dem unheimlichen Krächzen, das nicht ihr selbst zu gehören schien. Der Junge achtete nicht darauf, dass sie weinte. Er schlug ihr ins Gesicht. Amys Kopf wurde zur Seite geschleudert und sie konnte nichts machen, außer noch mehr zu weinen.
»Bitte …«, flüsterte sie.
»Wie ist dein Name?« Der Junge hörte sich an, als ob es ihm egal war, worum sie ihn bitten wollte.
»Amy.« Sie zog den Kopf zwischen die Schultern, versuchte sich wegzudrehen, aber ihre Zehenspitzen berührten nur ganz knapp den Boden und sie hatte keine Kraft, sich in den schweren Ketten zu bewegen. Eine zweite Ohrfeige traf ihr Gesicht.
»Dein Name ist Albia. Wie ist dein Name?«
Sie machte die Augen auf. Der Junge stand ganz dicht vor ihr, die Hand erhoben wie Mary, wenn sie etwas befahl. Er hatte ein nettes Gesicht und rote Wangen, aber seine Augen waren düster wie die von Douglas.
»Bitte, du musst mir helfen … Meine Eltern machen sich Sorgen um mich … Ich will doch nur nach–«
Er schlug sie noch einmal. Ihre Wange brannte wie Feuer, dann fühlte sie sich warm und nass an.
»Sag mir deinen Namen. Deinen richtigen Namen. Mutter will, dass du lernst, deinen richtigen Namen zu sagen.«
Amy biss sich auf die Lippen und sagte gar nichts. Sie musste so sehr
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