Nebelgrab (German Edition)
der des Lateins mächtig war, muss es gewesen sein, und dieser Jemand hat ihr diese Kette und diesen Ring geschenkt. Und ihrer Heimat durfte sie offiziell den Schädel überreichen. Siehst du?«
Lene zeigte auf die Stelle, von der sie sprach. »Hubert hat Folgendes sinngemäß ergänzt und gedeutet: ›caput papae est reliquiae pro creditores terrae Rheni est grates pro sola martyris‹, was so viel heißt wie ›für die Gläubigen im Lande des Rheins’. Damit wird Köln gemeint sein. Und eine Reise nach Rom und zurück hat lange gedauert. Sie hat das Kind bestimmt unterwegs bekommen, so dass es in der Heimat niemand bemerkt hat. So konnte sie ihr Bild aufrechterhalten. Der Satz: ›Puero Irmgardis salutari itinere‹ kann nur bedeuten, dass Irmgard eine
Mutter war.«
Lenes Wangen glühten, und sie konnte ihre Augen nur schwer von dem alten Schriftstück lösen. Sie drückte schließlich Konrad Huberts Übersetzungsblatt in die Hand.
Der sagte ein paar Sekunden lang nichts, dann meinte er: »Ich verstehe eure Sorgen. Die heilige Irmgard mit einem unehelichen Kind, das passt nicht. Es würde einen Aufschrei geben, der über Süchtelns Stadtgrenze hinaus reichen würde.«
Adrian und Arie
Adrian stand ganz gegen seine Gewohnheit früh auf. Der Schlaf war nicht gnädig mit ihm gewesen, wobei in Adrians Kopf weniger das an dem Tag anstehende, wichtige Referat in der Uni geisterte, als viel mehr die Frage, wer für die Morde verantwortlich war. Es mutete ihn merkwürdig an, seiner Wohnung aus Angst, selber zum Opfer werden zu können, fern zu bleiben. Er musste sich beeilen, musste nicht nur Nägel mit Köpfen machen, sondern sie auch in die Wand hämmern; er durfte nicht zu lange warten, der Polizei seine Erkenntnisse mitzuteilen. Er steckte schon viel zu tief in dieser Geschichte drin.
Von Elke wusste er, wann Arie Dienst hatte, und danach stand ein Besuch des Wohnsitzes von Professor Hecker auf seinem Plan.
Noch bevor seine Eltern wach waren, fuhr er zum Altenheim nach Süchteln. Bleiern zog sich die morgendliche Dunkelheit über die Anhöhe zwischen Dülken und Süchteln. Adrian passierte den Sportplatz.
Gleich daneben im Wald befand sich die Irmgardiskapelle; er würde ihr einen Besuch abstatten, sobald das Rätsel gelöst war. Dann folgte er dem sanften Abschwung der Straße, trat auf die Bremse, um der Radarfalle keine Gelegenheit zum Schnappschuss zu geben, und überlegte, während er sich vor der Ampel einreihte, wo sich die restlichen Manuskriptseiten befinden könnten.
Wie sollte er an die Familie Becker herantreten? Wie konnte er erreichen, dass man ihm die Post des verstorbenen Hubert zeigte? Ihm, einem Fremden? Dazu noch von der Zeitung. Er fürchtete, die Sache würde zu groß werden; er dachte über nichts anderes mehr nach, keine andere Story konnte ihn ablenken. Selbst die Geschichte mit dem Bürgermeister kam ihm daneben regelrecht fad vor. Sollte Frank sich darum kümmern. Er musste die Mordstory zum Ende bringen. Drei Morde in Süchteln, verknüpft mit der Vergangenheit, das war der Knüller und würde Karlas Zeitung mit ihm als ersten Geiger weit nach vorne werfen.
Als er am Seniorenstift parkte, sah er Arie gerade zum Nebeneingang gehen. Er rief nach ihm.
»Wer sind Sie?«, fragte der Altenpfleger misstrauisch, als Adrian im Laufschritt bei ihm angelangte. Adrian stellte sich vor und bat um ein paar Minuten.
»Warum sollte ich Ihnen etwas erzählen? Nur, weil Sie von der Zeitung sind? Vielleicht sollte ich Sie gerade deswegen ignorieren …«, antwortete Arie mürrisch. Er wandte sich zum Gehen. Eine rothaarige Frau lief zum Eingang und grüßte Arie laut. »Hallo Regina!«, grüßte der zurück. Die Frau blieb stehen, als sie sah, dass Adrian folgte.
»Arie, hast du Probleme?« Sie musterte Adrian mit forschem Blick. Arie schüttelte den Kopf und wollte der Frau die Tür aufhalten.
»Warten Sie, Arie!«, rief Adrian und fügte leiser hinzu: »Ich weiß von Frau Fabian, dass Sie Probleme haben.«
»Wie bitte?« Arie ließ die Tür los und kam mit großen Augen auf Adrian zu. »Was bilden Sie sich ein, Sie …«
»Bitte, verstehen Sie mich nicht falsch, Frau Schüttler ist nicht bloß der Inhalt eines Artikels, sie war auch meine Tante. Ich möchte wissen, was hier geschehen ist. Bitte reden Sie mit mir!«
Arie sah ihn zweifelnd an; dann sah er zu Regina, die neugierig in der Tür stehen geblieben war. Der Pfleger blickte auf die Uhr.
»Ich muss stempeln gehen, sonst
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