Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nebelriss

Nebelriss

Titel: Nebelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
Vom Netzwerk:
der Kaufmannsschicht. Als Erkennungszeichen hatten sie sich weiße Tücher um die Stirn gebunden. Vor einer Woche waren die Stirnbänder zum ersten Mal aufgetaucht, während des Zusammenstoßes auf der Kaiser-Akrin-Brücke, die zum Palast führte. Die Aufständischen hatten gefordert, zum Kaiser vorgelassen zu werden, und als die Palastgarde es ihnen verweigert hatte, hatten sie die Brücke erstürmt. Siebzehn von ihnen waren an diesem Tag erschlagen worden. Auf der Gegenseite hatten zwei kaiserliche Soldaten ihr Leben gelassen, gemeuchelt von der aufgebrachten Menge. An diesem Tag hatten die Aufständischen die weißen Stirnbänder zum ersten Mal getragen. Sie waren schnell zum Symbol der täglich wachsenden Bewegung geworden. ›Weißstirne‹, so nannte man die fanatischen Jugendlichen bereits - ein Wort, das sich in Windeseile in Thax verbreitet hatte.
    »Er muss sich uns zeigen!«, beharrte der junge Mann. Auch er trug ein weißes Stirnband. Nahe dem linken Ohr waren die Spuren verkrusteten Blutes zu erkennen. Er hatte sich den Priestern mit dem Namen Drun vorgestellt. Ashnada vermutete, dass er der Sohn eines Kaufmanns oder Zunftmeisters war, denn er trug ein sorgfältig geschneidertes Leinengewand nach Art der höheren Bürgerschicht. Die Weißstirne hatten ihn zum Wortführer ernannt; er sollte mit den Priestern des Tempels verhandeln - ein kaum zwanzigjähriger Bengel von hitzigem Temperament, in dem der Zorn und Leichtsinn der Jugend wallte. Das machte ihn so gefährlich. Seine Mitstreiter schienen nur auf sein Zeichen zu warten, um den Tempel zu erstürmen.
    Es war der achtzehnte Tag des neunten Kalenders, ein kalter, wenn auch schneeloser Morgen. Die Dächer der Häuser, die den Platz vor dem Tempel säumten, waren weiß bereift. Seit dreizehn Tagen tobte der Aufstand; er hatte bereits über fünfzig Menschenleben gefordert. Die Stimmung in der sonst so friedlichen Stadt war gereizt. Noch verkrochen sich die meisten Bürger von Thax ängstlich in ihren Häusern; doch je länger die Erhebung andauerte, desto mehr Menschen schlössen sich ihr an. Längst gelang es der Stadtgarde nicht mehr, alle Versammlungen in den Straßen auseinander zu treiben.
    Die Weißstirne bildeten dabei nur die Speerspitze der Erhebung. Die ersten Tumulte waren von den Angehörigen der Gießer- und Schmelzerzunft ausgegangen; jenen Menschen, die das Wunder von Thax mit eigenen Augen gesehen hatten. Dann hatten sich die unteren Volksschichten den zunächst friedlichen Protesten angeschlossen. Doch spätestens seit dem ersten Zusammenstoß vor dem Tempel, an dem die Menge von der Ritterschaft brutal auseinander getrieben worden war, hatten die Gewaltbereiten das Ruder übernommen. So hatte sich eine rund sechzigköpfige Gemeinschaft fanatischer Wandermönche aus umliegenden Dörfern eingefunden, die mit der Zerstörung heiliger Schreine ihrem Zorn auf die Kirche Ausdruck verliehen. Und schließlich hatte sich mit den Weißstirnen eine Gruppe gebildet, die auch vor Totschlag und Mordbrennerei nicht zurückschreckte. Nach fünf gewaltsamen Zusammenstößen mit den Weißstirnen war es unmöglich, sie weiter zu ignorieren, und so hatte sich der Erzprior bereit erklärt, mit ihnen zu verhandeln. »Bist du eigentlich taub, Junge?« Bars Balicor hatte sich für den heutigen Tag schlicht gekleidet. In seinem Leinengewand, über dessen Kragen das graue Haar fiel, wirkte er kaum wie ein kirchlicher Würdenträger. Seine stechenden Augen waren auf den Wortführer der Weißstirne gerichtet. »Ich habe dir gesagt, dass Nhordukael sich nicht im Tempel befindet. Ihr seid vergeblich gekommen. Löst diese alberne Veranstaltung auf und geht nach Hause!«
    Druns Gesicht verfärbte sich rot. »Ihr lügt, Priester, und das seit Tagen! Wir wissen, dass Ihr den Auserkorenen in Euren Mauern versteckt.«
    »Der Auserkorene!« Bars Balicors Mund verzog sich zu einem hässlichen Grinsen. »Es gibt nur Auserkorene in diesem Tempel! Hier leben fromme Novizen, Priester und Ritter, die sich Tathril verschrieben haben, dem einzigen und wahrhaftigen Gott. Wenn ihr jemanden braucht, der euren kümmerlichen Aufstand anführt, so sucht ihn in euren eigenen Reihen. Doch lasst diese gottesfürchtigen Menschen aus dem Spiel.« »Ihr wisst genau, wen ich meine«, schrie Drun, und für einen Moment sah es so aus, als wollte er sich auf den Erzprior stürzen. Doch schon stellte sich Ashnada schützend vor ihn, und auch die sechs Tempelritter, die einen Kreis um Bars Balicor

Weitere Kostenlose Bücher