Nebelriss
gesamte Viertel dazu, um stattdessen einen riesigen Dom zu errichten aus weißem Stein, größer noch als der Erhabene Dom zu Vara. Ja, ein Dom, strahlend hell, mit einem gigantischen Portal aus Silber; und während der Einweihungszeremonie würde er, Bars Balicor, der neue Hohepriester, Tathril ein großes Opfer darbringen …
Nun, da sie sich dem Tempel auf wenige Fuß genähert hatten, sah Balicor, dass es tatsächlich Bettler waren, die sich vor dem Tempel versammelt hatten; etwa zwanzig zerlumpte Gestalten, die Körper ausgemergelt und gebeugt. Sie hatten dreckige Tücher um ihren Leib gewickelt, ihr Haar hing wirr und filzig herab. Einige von ihnen trugen Fackeln in den Händen. Sie hatten Ashnadas Pferd umkreist, in demütiger Haltung vor ihr geduckt. Der Prior konnte ihre Worte nicht verstehen, doch ihr Anliegen war unschwer zu erraten. Lächelnd kramte er aus dem Lederbeutel an seiner Seite einige Kupfermünzen hervor und ritt dann, von neuem Mut bestärkt, auf das Bettelpack zu.
Sie ließen augenblicklich von Ashnada ab. Angewidert blickte Bars Balicor auf die heruntergekommenen Menschen, deren Geschlecht er nur erahnen konnte. Ihre Münder waren aufgerissen, nicht mehr als schwarze Flecken in formlosen Gesichtern, und ihr Flehen klang in seinen Ohren wie das Winseln von Hunden. Balicor wartete, bis seine Begleiter aufgeschlossen hatten. Dann richtete er sich hochmütig auf. »Tathril sieht euer Leiden«, sagte er mit fester Stimme. »Es wird nicht ewig dauern, ihr Sünder. Wenn euer Glaube fest ist, wird er sich eurer annehmen.« Das Stöhnen der Bettler wandelte sich zu hastig gesprochenen Gebetsformeln. Zufrieden beugte sich Bars Balicor vor und streichelte die zitternden Köpfe, die nun ganz nah bei ihm waren. Hinter ihm erklang unruhiges Getrappel. Seine Begleiter ritten vor, um die Bettelnden zurückzutreiben. »Ja, betet!«, rief Bars Balicor. »Jedes Gebet bringt euch Tathril näher, und wenn der Tod euch Erlösung bringt, werdet ihr seine Gnade erfahren! Er weint um seine verlorenen Kinder.« Er ließ die Kupfermünzen zu Boden gleiten. Geräuschlos sanken sie in den aufgeweichten Straßenschlamm. Ein dankbares Raunen ging durch die Schar der Bettler.
Balicor blickte auf. Er beobachtete Ashnada, die zum Tor geritten war. Mit der Faust hieb sie mehrmals gegen das schwarze Holz. Nach kurzer Zeit glitten die Flügel des Tors zurück. Einige Tempelritter in weißen Kutten erschienen, mit Speeren bewaffnet. Ashnada beugte sich zu ihnen herab und wechselte einige Worte mit ihnen. »Kennst du mich noch, Prior?«
Erschrocken fuhr Bars Balicor zusammen. Einer der Bettler hatte sich aufgerichtet. Weißes, wirres Haar, das Gesicht starrend vor Schmutz. Nur die Augen funkelten; der Fackelschein tanzte in ihnen. Der Bettler riss die Hand empor, öffnete sie, und kurz blitzte im Handballen etwas auf. Balicor schreckte zurück.
»Kennst mich nicht mehr? Kennst mich nicht mehr?«, ein gehässiges Zischen, »hast mich schon vergessen?« Er war von auffallender Größe, eine lange, ausgemergelte Gestalt. Der saure Gestank seines Körpers stieg Bars Balicor in die Nase. »Ich bin wieder hier … bin nicht verreckt, Prior, wie du es dir gewünscht hast!« »Was willst du, Abschaum?«, brüllte Bars Balicor. Endlich reagierten die Ritter neben ihm; ihre Pferde wieherten, Speere zuckten noch vorne, doch der Bettler tauchte unter den Spitzen weg, wich zurück und schrie weiter: »Unser gemeinsamer Schwur, erinnerst du dich noch daran? ›Der Rosenstock trägt keine Blüten mehr, und Mondschlund schweigt …‹«
Die Ritter preschten vor; ängstliche Schreie drangen aus der Schar der Bettler, die sich aufrafften, um humpelnd die Flucht zu ergreifen. Der unheimliche Alte entschwand Balicors Blicken; nur seine Schreie waren zu hören. Dann aber Balicor riss entsetzt die Augen auf - drängte er sich wieder zwischen den Pferdeleibern hervor, das Gesicht voller Hass, rannte auf den Prior zu, die rechte Hand empor gerissen. »Hier bin ich, mein Bruder«, stieß er hervor. »Und du schuldest mir mehr als das!« Er schleuderte die Hand nach vorne. Ein kleiner, blinkender Gegenstand flog auf Balicor zu. Ohne zu überlegen, einem spontanen Reflex folgend, griff er danach. Öffnete die Hand.
Es war eine der Kupfermünzen.
Die Ritter hatten ihre Pferde gewendet. Sie preschten mit wütenden Schreien auf den Bettler zu, der sich nun abwandte und davonrannte. Sein Haar wehte im Wind. Schnell hatte er die Schar der flüchtenden
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