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Nebelriss

Nebelriss

Titel: Nebelriss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markolf Hoffmann
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Farghs Bett gestanden und voller Verachtung auf den Sterbenden herabgesehen.
    Wieder blickte Nhordukael auf die Statue des Hohenpriesters.
Soll es so weitergehen, mein Leben lang? Sollen die zwanzig Jahre, die ich ihm gedient habe, nur der Anfang gewesen sein?
»Tathril!«, hörte er wieder den Ruf aus tausend Mündern. Ihm schien, als verhöhnte ihn die Menge, »Tathril!«, immer wieder und wieder, ein bösartiges Spottlied, »Tathril, Tathril …«
    Es
gibt ihn nicht! Tathril ist nichts als eine Lüge. Mit der Angst vor diesem gnadenlosen Gott hat Magro Fargh meinen Willen gebrochen, mit der Angst vor Tathrils Rache hat er mich zu Boden gezwungen! Doch es gibt ihn nicht; und es gibt keine Angst mehr, niemals mehr!
    Nhordukael befand sich nun dicht vor der Kaiserlichen Bronzewerkstatt, ganz in der Nähe der vier Statuen, die am Abend in einer feierlichen Zeremonie mit Bronze Übergossen werden sollten. Angewidert wandte er sich von ihnen ab.
    Weitere Menschen drängten auf den Platz. Von allen Seiten erklang übermütige Musik, und auch zahlreiche Gaukler hatten sich eingefunden, bunt gekleidete Jongleure, Narren und Tänzer. Auf Holzkarren und umgedrehten Fässern gaben sie ihre Kunststücke zum Besten, und die Menge dankte es ihnen mit tosenden Beifallsstürmen.
    Besonders ein Gaukler, der in Nhordukaels Nähe stand, begeisterte das Volk. Es handelte sich um einen Messerartisten. Auf einer schmalen Tribüne - ein paar Kisten, über die er fleckige Tierfelle geworfen hatte - führte er seine Kunst vor, die langen schwarzen Haare wild in den Nacken geworfen. Sein breiter, muskulöser Oberkörper war entblößt, um die Hautbilder zur Schau zu stellen, die sich über Brust und Oberarme zogen. Sie stellten eine Wolfsmeute dar: weit aufgerissene Mäuler, messerscharfe Zähne, von denen der Schaum troff, blutunterlaufene Augen, die zum Himmel aufstarrten. Wenn der Mann seine Arme streckte und die Muskeln sich eindrucksvoll unter der Haut spannten, gerieten die Bilder in Bewegung; dann schienen die Wölfe blutgierig übereinander herzufallen und sich ineinander zu verbeißen. Es war ein ebenso faszinierender wie abstoßender Anblick, der allein von der Kunstfertigkeit übertroffen wurde, mit der dieser Gaukler seine schartigen Dolche zu werfen wusste. Die glänzenden Klingen tanzten durch die Luft, schneller als das Auge ihnen folgen konnte - so schnell, dass sich die Lichtreflexionen auf dem Stahl zu Mustern fügten. Geschickt zog der Gaukler das Publikum in seinen Bann; anfangs ließ er sich einen Apfel zuwerfen, um ihn mit blitzschnellen Schnitten zu schälen und noch in der Luft zu zerlegen, sodass nichts als winzige Streifen klebrigen Fruchtfleisches zurückblieb. Doch er steigerte sich weiter; immer wuchtiger durchschnitten seine Dolche die Luft, sodass die Leute sich unter den Stößen duckten und angstvoll zurückwichen, als fürchteten sie, der Mann könnte im nächsten Moment von seiner Bühne springen und über sie herfallen.
    Gebannt starrte Nhordukael auf die tanzenden Hände des unheimlichen Artisten. Er hatte noch nie ein Messer in der Hand gehabt. Wie fühlte sich wohl eine solche Waffe an - der kalte Stahl, das Gefühl der Macht, mit jedem Stoß zerstören, verwunden und töten zu können?
Wäre ich in der Lage zu töten? Wäre ich in der Lage, ein Messer in den Händen zu halten, einen Stoß zu führen, ohne zu zittern, ohne dass der Griff meinen Fingern entgleitet?
    Er spürte ein Zerren an seiner Kutte. Eine Frau stand hinter ihm, der Leib mit verdreckten Leinenstreifen umwickelt, das Gesicht von Furunkeln übersät. Flehend beugte sie ihr Haupt, und aus ihrem Weinen und Wehklagen konnte Nhordukael den Namen Tathrils heraushören, »Tathril … Tathril …« Hinter ihr drängten weitere zerrissene Gestalten auf den Priester zu. Die Menge machte ihnen widerwillig Platz. Nhordukael stellte den Korb zu Boden. Er löste den Saum seiner Kutte aus dem Griff der Frau, um dann ein brauchbares Heilkraut hervorzusuchen, das ihr ein wenig Linderung verschaffen würde. Er ertappte sich dabei, eine leise Gebetsformel vor sich hinzumurmeln; hohle Phrasen, leere Worte. Er presste die Lippen aufeinander und fuhr schweigend fort, den Armen und Kranken Tathrils Gnade zu erweisen - Tathrils unendliche, wunderbare, verlogene Gnade.
    Natürlich war der Tag der Ernte ein Fest des Volkes, nicht des Adels, und so beging der Hofstaat diesen Tag in seiner eigenen Weise. Es wurde nicht geopfert, sondern genossen; nicht Tathril

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