Nebelschleier
Wochenenden und Feiertagen geöffnet war. Angermüller musste unwillkürlich lächeln. Hatte Rosi sich doch durchgesetzt! Immer hatte sie davon geträumt, auf dem Hof einen Raum einzurichten, den man als Café und Veranstaltungsraum nutzen konnte, wo man hausgemachte Spezialitäten anbot und kleine Konzerte, Lesungen, Ausstellungen und Ähnliches stattfinden sollten. Johannes fand die Idee zwar gut, glaubte aber zum einen, dass es sich nicht rechnen würde, und zum anderen, dass Rosi mit ihren vielfältigen Aufgaben auf dem Hof schon genug um die Ohren hatte. Immerhin hatte sie noch zwei Kinder im Haus, den 17-jährigen Moritz und die 15-jährige Lena, und mit den Praktikanten und anderen Helfern hatte sie bisweilen mehr als zwölf Personen zu versorgen. Dazu kam ihre Verantwortung für die Käserei, den Hofladen und den Gemüsegarten – sie konnte sich wahrlich nicht über Langeweile beklagen.
Georg betrat den großen Hof, der hufeisenförmig von Gebäuden eingerahmt wurde. Er würde schon mitbekommen, wenn er an diesem Tag bei den Freunden nicht willkommen war, und sich dann eben einfach wieder verabschieden. Wie immer klingelte er nicht an der Haustür, sondern ging rechts außen am Wohnhaus vorbei und durch den Blumengarten zum Hintereingang, der direkt in die Küche führte. Schon als Kind hatte er zu seinem Freund Johannes immer diesen Weg genommen, denn meist saß der am Nachmittag in der Küche und machte Hausaufgaben oder seine Mutter war da und wusste, wo Johannes zu finden war.
Durch den Glasperlenvorhang, der vor der geöffneten Tür hing, hörte er die Stimmen von Johannes und Rosi, ziemlich laut und erregt. Sie verstummten sofort, als er den Vorhang zur Seite schob und eintrat.
»Grüßt euch, ihr zwei! Ich bin’s mal wieder.«
Georg trat auf Rosi zu und umarmte sie.
»Mein Beileid, Rosi!«
Rosi nickte nur stumm und erwiderte seine Umarmung.
»Entschuldige, Schorsch! Ich hab noch was zu erledigen«, sagte sie dann und verließ schnell die Küche.
»Dir auch Beileid, Johannes!«
Er gab seinem Freund die Hand.
»Ist schon gut … Schön, dass du dich auch einmal wieder hier blicken lässt, Schorsch, du …!«
Johannes haute ihm leicht mit der Faust gegen den linken Oberarm.
»Jetzt sag aber nicht ›du altes Nordlicht‹ zu mir … das muss ich mir heut schon den ganzen Tag anhören!«
»Ja, bist du denn keins? Du redest doch schon genau so vornehm daher wie die da droben!«
»Ach ja?«, Georg Angermüller sah seinen Freund misstrauisch an. »In Lübeck, da heißt es immer: So wie Sie sprechen – Sie sind wohl nicht von hier?«
»Ja freilich! In Zeiten der Globalisierung wird die kulturelle Identität immer wichtiger! Da zählt jeder Kilometer zwischen Franken und Schleswig-Holstein!«, meinte Johannes gewichtig und versuchte, ein ernstes Gesicht zu machen. Dann musste er doch lachen und tippte seinem Freund ans Kinn.
»Und deinen Rauschebart hast du auch nicht mehr! Sauber! Man muss was für sich tun, wenn man die 40 überschritten hat, gell?«
In der heißen Zeit dieses Sommers hatte Georg sich seines Vollbartes entledigt und dachte selbst schon gar nicht mehr an sein verändertes Äußeres. Seine Mutter hatte nichts dazu gesagt, es hätte ihn auch gewundert, aber Marga hatte ihn sofort darauf angesprochen und fand, er sah mit seinem Dreitagebart und den dunklen Locken aus wie ein italienischer Tenor.
»Komm, setz dich! Magst du vielleicht auch einen Kaffee?«
»Wenn du mich so fragst: gern! Aber ich komm ja vielleicht ungelegen – nachdem, was heut passiert ist … Du musst mir das einfach sagen, dann schau ich ein ander Mal vorbei.«
Johannes holte eine Tasse aus dem Schrank. Er war genau so groß wie Georg, aber sehr hager und von der vielen Arbeit im Freien tief gebräunt. Mit dem zum Zopf gebundenen langen Haar hatte er etwas von einem Indianer, nur dass er weißblond und nicht schwarzhaarig war.
»Das ist schon in Ordnung, Schorsch!«
»Aber die Rosi scheint’s ja ganz schön mitzunehmen.«
»Er war halt ihr Vater. Und die Vorstellung, dass ihn einer umgebracht hat …«, Johannes zuckte mit den Schultern.
»Ja, das ist bestimmt schlimm für sie«, stimmte Georg zu.
»Am schlimmsten ist für sie wahrscheinlich, dass ich keinen Grund zur Trauer seh und das auch sage.«
Georg schaute ihn fragend an.
»Der Alte wollte ja nie, dass Rosi und ich zusammenkommen.«
»Wie hatte das eigentlich angefangen, die Probleme zwischen euren Familien?«
Johannes lachte
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