Nebelschleier
gebracht. Er war aus der ordentlichen Art geschlagen, hatte der Familie von jeher Kummer gemacht und ein Gutteil seiner fast 60 Lebensjahre im Gefängnis zugebracht. So einem trauten die Dörfler natürlich manches zu – aber einen Mord? Es wäre schon interessant zu wissen, was dran war, dass maßgeblich der alte Steinlein dem Gottlieb zu seinem letzten Knastaufenthalt verholfen hatte. Frau Schwarz wohnte immer noch in dem Haus, bei ihrer Tochter und deren Familie, und wahrscheinlich war sie es, die Georg jetzt hinter der Gardine verschwinden sah, als er in Richtung Fenster blickte.
Die Nächste, der er in die Arme lief, war Martha Rauschert. An ihr schien die Zeit vorübergegangen – schon vor 20 Jahren hatte sie so klein und verhutzelt ausgesehen wie heute, hatte sich auf ihren Stock gestützt und die Welt durch eine dicke Brille betrachtet. Trotz einer erheblichen Augenschwäche war ihr noch nie etwas entgangen und ihr Klatschmaul war im Dorf regelrecht gefürchtet. Seine Mutter machte immer einen großen Bogen um die Rauschert’n, die alte Käugoschn, wie sie sie nannte. Auch ihn hatte sie sogleich im Visier.
»Du bist doch der Schorsch Angermüller, gell! Na, sag emal: Bist du noch in Lübeck?«
»Tag, Frau Rauschert! Ja, ich bin noch in Lübeck.«
»Und, wie isn des da droben? Bist wohl ach schon e richtiges Nordlicht?«, kicherte sie.
»Ich fühle mich in Lübeck sehr wohl.«
Da werde ich auch nicht dauernd von jemandem angequatscht, hätte er beinahe noch hinzugefügt.
»Haste scho ghört Schorsch, vom Steinlein sein Unglück?«
Georg nickte stumm und Martha Rauschert wackelte empört mit dem Kopf.
»Nä, was heutzutag alles passiert. Sogar in unserm klein Niederengbach is ma seines Lebens nimmer sicher! Die Welt wird immer verrückter«, jammerte sie.
»Du, horch emal!«, die alte Frau dämpfte ihre Lautstärke, sodass sich Georg zu ihr hinabbeugen musste. »Der alte Steinlein: Seit e paar Wochen hat der fei so a jungs Ding ghabt! Des war bstimmt sei Freundin!«
Angermüller, der eigentlich gar nicht über das Thema Steinlein hatte reden wollen, konnte nicht umhin, erstaunt zu sagen: »Ich denk, der saß im Rollstuhl und war völlig gelähmt. Und ging der nicht auf die 80?«
»Na und? Der war dreimal verheirat, der alte Steinlein! Und der hats trotzdem immer noch mit andere Weiber ghabt! Und ob alles gelähmt war, weiß ma ja a net …«
Sie grinste so listig, dass Georg fast errötete.
»Jedenfalls«, fuhr sie eifrig und mit leiser Stimme fort, »des Mädle hat en Freund, der hat se nämlich immer abgholt mit so em lauten Auto, ich glaub, des is e Russ, und wenn der nu eifersüchtig war?« Triumphierend hob Martha Rauschert den Kopf und sagte laut und voller Überzeugung: »Möglich wär des fei!«
Georg hatte keine Lust, diese abenteuerliche Theorie zu kommentieren.
»Na ja, nix für ungut, Schorsch! Du bist ja e Kommissar, du machst des scho!«
Und damit schlich sie, schwer auf ihren Stock gestützt, weiter durchs Dorf.
Der Hof von Johannes und Rosi war nicht der größte, aber bestimmt der schönste im Dorf. Das war nicht immer so. Wie so viele Bauern hatten auch Johannes’ Eltern in den 50er, 60er Jahren die Gebäude mit Eternitplatten verkleiden lassen – wie die meisten anderen im Glauben, das sei modern, praktisch und gut – und damit das Dorf zu einer ziemlich gesichtslosen, sterilen Ansiedlung gemacht. Als Johannes und Rosi anfingen, den Hof zu bewirtschaften, holten sie nach und nach die Schönheit des mehr als 100 Jahre alten Anwesens zurück. Sie legten das Fachwerk frei, restaurierten die alte Veranda, die im ersten Stock einen Wintergarten trug, rissen den schadhaften Beton im Hof ab und ersetzten ihn durch alte Pflastersteine. Mittlerweile war der Sturms-Hof auf biologische Milchviehwirtschaft spezialisiert. Hinter dem alten Hofensemble lagen die neuen, für artgerechte Tierhaltung ausgelegten Stallungen und es gab eine hochmoderne Tandemmelkanlage. Der größte Teil der Milch wurde in einem großen regionalen Werk zu Biokäse verarbeitet. Aber unter Rosis Obhut stellten sie auch auf dem Hof einen ganz speziellen Weichkäse aus Rohmilch her, den sie in verschiedenen Varianten natur, mit Schnittlauch oder Pfeffer exklusiv in dem kleinen Hofladen und auf ihrem Marktstand in Coburg vertrieben.
Neben dem Hinweis auf die Bioland-Produkte und den Hofladen gab es noch ein neues Schild, das ihm gestern Abend gar nicht aufgefallen war. Es wies auf ein Café hin, das an
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