Nebelschleier
Gäste die 70 weit überschritten hatten, herrschte auch nach dem fünfgängigen Galadinner um diese späte Stunde noch eine prächtige Stimmung im Victoria & Albert-Salon. Paola hätte zufrieden sein können, der Durst der englischen Reisegruppe schien kein Ende nehmen zu wollen. Die munteren Senioren orderten ein Bier nach dem anderen und vor allem viele der Damen verlangte es nach Scotch oder Brandy. Auch die Kutscherstube war voll besetzt. Da die erst kürzlich eingestellte Tresenkraft plötzlich erkrankt war, stand Paola selbst hinter dem Tresen, zapfte Bier, goss Schnaps ein, bereitete Espressi. Die Feuersirene hatte man natürlich auch in Steinleins Landgasthof gehört und einige der Gäste waren nach draußen geeilt und hatten sich unter die Schaulustigen gemischt. Der Anblick der Flammen hatte ihnen scheinbar Durst gemacht, denn nach einer Weile kehrten sie zurück, dazu auch einige Dorfbewohner, und beredeten die Ereignisse des Abends bei dem einen oder anderen Bier.
Nach allem, was heute passiert war, lagen Paolas Nerven blank, und sie wäre am liebsten weit weg gewesen. Nichts mehr hören und sehen, nicht mehr nachgrübeln über das Geschehen dieses Morgens, nicht an Beerdigung, Leichenschmaus, Testamentseröffnung denken. Doch da sie ohnehin nicht die Wahl hatte, siegte wie immer ihre eiserne Disziplin. Bea hatte ihr Hilfe bei all den Dingen angeboten, die jetzt geregelt werden mussten. Ausgerechnet Bea. Sie brauchte Bea nicht, sie kriegte das auch allein hin, hatte bereits einen Bestatter informiert, der sofort aktiv werden sollte, wenn die Leiche freigegeben wurde, und der Leichenschmaus musste natürlich hier im Hotel stattfinden. Sie würde Vaters Lieblingsgerichte auftischen lassen: eine kräftige Suppe mit Markklößchen und Eierstich, einen Schweinsbraten mit gemengten Klößen und Kraut und zum Nachtisch Mohrenköpfe mit Vanilleeis und Sahne. Eine Liste der Leute, die Traueranzeigen erhalten sollten, hatte sie auch schon angefangen aufzuschreiben und einen Entwurf für eine Zeitungsanzeige vorbereitet. Sobald der Termin für die Beerdigung feststand, konnte alles in Druck gehen.
Paola funktionierte so präzise wie ein Uhrwerk. Nach dem Joggen machte sie wie jeden Abend ihre Runde, um die Gäste nach ihrem Befinden zu fragen und ihnen einen Guten Abend zu wünschen. Die englischen Touristen unterhielt sie in perfektem Englisch mit Anekdoten über Victoria und Albert und schenkte ihnen ihr freundlichstes Lächeln. Dabei sehnte sie sich nach nichts mehr als Ruhe und Alleinsein. Vielleicht nicht ganz allein.
Als sie am Nachmittag um Georgs Besuch gebeten hatte, war ihr nicht klar, was sie damit auslösen würde. Sie war verzweifelt in diesem Moment, suchte Hilfe und sie erinnerte sich noch so gut an seine ruhige, verständnisvolle Art. Als er ihr dann gegenüberstand, war die Vergangenheit mit einem Mal wieder lebendig geworden. Bestimmt war Georg damals nicht der am besten aussehende Junge in Niederengbach, aber er hatte Witz und Charme, und mit Sicherheit war er der ehrlichste und treueste Freund, den sie je hatte.
Gedankenverloren polierte sie einen Kognacschwenker und hielt ihn gegen das Licht. Die Tür öffnete sich, doch sie konnte nicht sehen, wer gekommen war, da gerade eine Gruppe Gäste dabei war, das Lokal zu verlassen. Als dann die Sicht frei geworden war, zuckte sie zusammen und ließ fast das Glas fallen. Diese Begegnung jetzt und hier fehlte ihr gerade noch – als ob sie nicht schon genug Sorgen hatte!
Als Angermüller von Bohnsack erfahren hatte, dass man beabsichtigte, Johannes und Tom mit auf die Kriminalpolizeiinspektion nach Coburg zu nehmen, hatte er erfolgreich darauf bestanden, noch einmal mit dem Freund sprechen zu können. Natürlich machte er sich Sorgen und ärgerte sich, Johannes nicht nach seinem Besuch bei Steinlein gefragt zu haben. Am liebsten wäre er selbst mitgefahren, doch da Johannes daran gar nicht zu denken schien und Angermüller keine Lust auf eine Auseinandersetzung mit Bohnsack hatte, zu der es bestimmt gekommen wäre, machte er in diese Richtung gar keinen Vorstoß. Ohnehin verstand er die Intention der Coburger Kollegen, die ihnen verdächtig erscheinenden Personen durch ein Verhör in der Dienststelle beeindrucken und gesprächig machen zu wollen – wahrscheinlich hätte er in ihrer Situation auch nicht anders gehandelt. Johannes war in der Region als aktiver Gentechnikgegner bekannt, es bestand offensichtlich eine Verbindung zwischen ihm und
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