Nebelschleier
war sie heute Morgen eigentlich nicht bei deinem Vater?«
»Sie hatte ihren freien Tag.«
Angermüller überlegte.
»Mord aus Leidenschaft oder aus Habgier – in den meisten Fällen sind das ja die Motive. Wenn ihr Freund sehr eifersüchtig ist. Andererseits«, er sah Paola an, die sich mit angezogenen Beinen ihm gegenüber gesetzt hatte. »Andererseits schlachtet man nicht die Kuh, die man melken kann, und wenn der alte Mann von der Frau wirklich so fasziniert war, hätte sie wahrscheinlich noch so manches aus ihm rausholen können«, Angermüller spann seinen Gedanken fort. »Es sei denn, es ginge um sein Testament. Ein Erbe, das wäre natürlich ein ganz dicker Batzen ohne irgendeine Verpflichtung, wie ein Hauptgewinn in der Lotterie. Und gerade alte Männer verlieren in gewissen Situationen gern mal den Verstand. Weißt du denn, ob dein Vater in letzter Zeit mit einem Anwalt oder Notar Kontakt hatte?«
Paola zuckte mit den Schultern.
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Aber er hätte doch so einen Termin auch allein beziehungsweise zusammen mit dieser ihm so selbstlos zugeneigten jungen Frau machen können.«
Paola sah ihn erstaunt an.
»Ich denke, die Kanzlei, mit der wir sonst immer zusammenarbeiten, hätte mich darüber informiert.«
»Er kann ja woanders hingegangen sein. Ich kann mir denken, dass Irina ihn dabei sehr gern unterstützt hätte, oder?«
»Das kann natürlich stimmen«, meinte Paola zögernd.
»Ich denke, ich sollte mich morgen mit der jungen Dame mal unterhalten. Du kannst mir doch bestimmt sagen, wie und wo ich sie erreiche?«
»Sicher, sicher«, Paola wirkte zerstreut.
»Sag, Paola: Was ist mit dem Testament?«
Sie winkte ab und fasste nach seiner Hand. Angermüller, der sich ganz auf seine Überlegungen zu dem Verbrechen an ihrem Vater konzentriert hatte, sah erst jetzt, wie blass sie war.
»Ich möchte jetzt nicht mehr darüber reden. Nicht heute.« Sie sah ihn ernst an, ihre Stimme war sehr leise. »Verstehst du das, Giorgio?«
»Natürlich, Paola! Entschuldige bitte, ich vergesse immer, wie frisch das alles für dich ist. Aber wenn ich mich einmal in einem Fall festgebissen habe – Berufskrankheit, weißt du.«
Angermüller ärgerte sich über sein taktloses Vorpreschen und es tat ihm furchtbar leid. Paola brauchte ihn jetzt, das spürte er, aber seinen Trost und Zuspruch und sicherlich keine polizeiliche Vernehmung.
»Aber ich freu mich doch, dass du das für mich tust! Nur für heute, lass gut sein«, sie stand auf. »Ich glaube, ich könnte für meine Nerven noch einen Brandy gebrauchen, du auch?«
Georg nickte.
»Und dann mach ich mich aber auf.«
»Du kannst gern noch bleiben.«
Paola kam mit den gefüllten Gläsern zurück und setzte sich neben ihn.
»Salute!«
Sie tranken, und dann sah Paola ihn an, und wie schon beim ersten Mal bewegten sie sich aufeinander zu, ohne eigenes Zutun, wie Georg schien. Und auf einmal rückte die Gegenwart in weite Ferne – der Mord, der Brand, Irina, Johannes …
Natürlich knarrte die Treppe mitleidlos laut, als er gegen halb drei auf Zehenspitzen zu seiner Kammer hochstieg. Schon beim ersten Schritt schob sich der Kopf seiner Mutter aus ihrer Schlafzimmertür.
»Saache mal, wo kommst denn du jetzet her?«
Es klang empört. Zwar flüsterte sie, trotzdem gab sie sich keineswegs Mühe, besonders leise zu sein. Da Angermüller kein Licht gemacht hatte, entging ihr wenigstens sein blaues Auge.
»Ich war noch unterwegs – bei Paola, bei den Sturms – schlaf weiter, Mamma, alles in Ordnung! Gut Nacht!«
»Dei Frau hat angerufen.«
»Astrid? Was wollte sie denn?«
»Des hat se net gsacht. Du sollst dich bei ihr melden, weil se dich net auf deim Handy erreicht hat.«
»Gut, kümmer ich mich drum. Alsdann: Gut Nacht!«
»Morchn früh gemma erschtemal aufn Friedhof. Nacht!«
Energisch wurde die Tür zugezogen.
In seiner Kammer öffnete Angermüller das Fenster und legte sich aufs Bett. Das Haus lag am Ortsrand und vom Brandgeruch war hier nichts mehr auszumachen, es roch nach Herbstlaub und den nebelfeuchten Wiesen am Fluss. Er zog sein Handy aus der Tasche und stellte fest, dass es ausgeschaltet war. Mist! Das passierte leider manchmal, dass sich das Gerät in der Hosentasche von allein abschaltete. Wäre das nicht geschehen, dann wäre vielleicht anderes auch nicht geschehen … Angermüller, alter Hornochs, lass die fadenscheinigen Entschuldigungen! Du wusstest doch, was du tust, und auch, dass es nicht richtig war
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