Nebelschleier
Die Seelen der Menschen leben sowieso an ganz anderen Orten, irgendwo in dieser oder einer anderen Welt«, ihr Blick verlor sich in der Ferne. »Aber meine Mutter hab ich bisher nirgendwo wiedergefunden, deshalb komm ich manchmal doch noch hierher.«
»Du warst noch sehr jung beim Tod deiner Mutter, nicht wahr?«
»Ich war ein kleines Mädchen von drei Jahren.«
»Ich war vier, als mein Vater starb.«
»Meine Mutter ist nicht gestorben. Sie hat sich umgebracht – wegen ihm.«
Beas Stimme klang hart, und Angermüller fiel ein, dass der Tod ihrer Mutter immer mit einem Geheimnis umgeben war und dass man im Ort zwar gern darüber spekulierte, aber nichts Genaues wusste. Er war ein paar Jahre jünger als Bea und hatte als Kind nur manchmal Andeutungen zu dieser Geschichte von den Erwachsenen gehört.
»Grüß Gott, Bea! Dich hab ich ja lang nimmer gsehn!«
Angermüllers Mutter war zu den beiden herübergekommen.
»Mein Beileid! E schlimme Sach is des mit deim Vater!«
»Hallo Frau Angermüller! Danke. Das ist halt der Lauf der Welt.«
»Nu ja, aber so! Des wünscht ma ja net seim ärchsten Feind!«
Bea lächelte nur und zuckte mit den Schultern.
»Nuja«, meinte die alte Frau noch einmal, als sie merkte, dass Bea offensichtlich nicht darüber reden wollte. »Ich geh dann emal. Tschüssle, Bea! Georg, ich setz mich da draußen auf die Bank, ich muss mich e bissle ausruhen.«
Bea wartete, bis Georgs Mutter außer Hörweite war.
»Ich helfe zwar meinen Schwestern bei allem, was jetzt zu regeln und zu tun ist, aber ich werde auf keinen Fall zur Beerdigung kommen. Das ertrag ich nicht, wenn alle nur schöne Worte über den lieben Verstorbenen verlieren. Glaub mir, ich bin heilfroh, wenn Gras über die Sache und den Alten gewachsen ist.«
»Tja, es war nicht einfach mit euerm Vater und ihr hattet wohl alle Probleme mit ihm.«
»Probleme?«, Bea lachte, doch es klang überhaupt nicht fröhlich. »Als ich zurückkam, dachte ich, vielleicht ist er ja gar nicht so schlimm, wie ich ihn in Erinnerung habe. Es war viel Zeit vergangen und Menschen lernen ja auch dazu. Ich habe mich sogar bemüht, das mit meiner Mutter zu vergessen. Aber er war nur böse, hat mich rausgeschmissen, beleidigt«, sie zuckte mit den Schultern. »Er hatte sich überhaupt nicht verändert, er war genau der gleiche Unmensch wie früher!«
»Was war damals eigentlich genau mit deiner Mutter? Oder magst du nicht darüber reden?«
»Doch schon, aber nicht jetzt! Ich würde dir auch gern von meinem wunderbaren Sohn erzählen! Aber ich muss los, Georg, um halb elf kommen meine Frauen zum Kurs! Schau doch später mal vorbei – ich bin den ganzen Tag zu Hause! Du hast ja meine Karte.«
Sie umarmte ihn kurz, warf ihren bunten Beutel über die Schulter und ging schnellen Schrittes in Richtung Ausgang – eine stolze Frau, hoch aufgerichtet, der ein türkisfarbener Schleier nachwehte.
Auch Angermüller verließ den kleinen Friedhof. Inzwischen hatte sich der Hochnebel verzogen, und er setzte sich neben seine Mutter auf die Bank, die draußen am Hang unter einem Nussbaum stand.
»Gell, hier is doch immer wieder schö!«
Das kam völlig unvermittelt.
»Ja, das stimmt.«
Er streichelte ihre Hand und sie zog sie nicht gleich zurück wie sonst. Eine ganze Weile saßen sie stumm nebeneinander und genossen den Blick ins Tal. In der Ferne standen die letzten Ausläufer des Thüringer Waldes wie ein dunkler Saum am Horizont. Die Vierecke der Felder bildeten davor einen bunten Teppich aus gedämpften Braun- und Grüntönen, unterbrochen nur vom leuchtenden Grün des Winterroggens. Der Laubwald, der den Lauf der Itz säumte, erinnerte in seinen warmen Farben an einen Trockenblumenstrauß. Es war ganz windstill. Niederengbach lag friedlich und träge in der Sonne und aus ein paar Schornsteinen stieg kerzengerade der Rauch in den blassblauen Himmel.
Seine Mutter hatte recht: Es war hier wirklich schön. Ob er allerdings hier wieder würde leben wollen? Die Landschaft war nicht alles und das scheinbar so idyllische Landleben in einer kleinen, abgeschlossenen Gemeinschaft wie Niederengbach hatte auch seine Nachteile. Man saß sehr nah aufeinander, und da gab es nicht nur Nachbarschaft und Solidarität, sondern ebenso viel Kontrolle und Unfreiheit. Natürlich würde Johannes ihm sagen, die brauchen dich ja nicht kümmern, die Leut’, doch Georg Angermüller kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, dass er sich nicht einfach darüber hinwegsetzen konnte,
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