Nebelschleier
…
Vier Nachrichten waren auf seiner Mobilbox hinterlassen worden.
»Hallo Georg! Rufst du bitte zurück! Bin zu Hause!«
Dann Astrids Stimme ein zweites Mal: »Ich bin’s noch mal! Deine Mutter hat erzählt, es gab einen Mord und einen Brand in Niederengbach – denk dran, du bist im Urlaub, mein Schatz! Melde dich bitte, ja?«
Astrids letzter Anruf stammte von 0.55 Uhr.
»Also, ich wollte eigentlich persönlich mit dir sprechen, aber du scheinst ja schwer beschäftigt zu sein! Also, Judith soll noch bis Dienstag oder Mittwoch im Krankenhaus bleiben. Mit anderen Worten: Wir kommen nun doch nicht mehr zu Omas Geburtstagsfeier. Julia ist heute schon überglücklich mit Maren nach Fehmarn gefahren und ich«, es folgte eine kleine Pause. »Also ich segle morgen in aller Frühe mit Martin nach Kühlungsborn, vielleicht übernachten wir da. Und ich wollte dir nur noch mal sagen«, ihre Stimme klang ein wenig verlegen. »Also, dass du dir darüber keinen Kopp machen sollst – weil du nicht hier bist und so. Du weißt schon, was ich meine, unser Gespräch vor einigen Wochen, von den Dingen, die ganz anders sind, als sie scheinen. Gute Nacht, mein Schatz, schlaf schön! Und schöne Zeit noch! Wir rufen am Sonntag zu Omas Geburtstag auf jeden Fall an!«
Die letzte Nachricht stammte von Johannes und war vor einer halben Stunde eingegangen. Er war nach Hause gebracht worden, sollte sich aber für die Coburger Kollegen zur Verfügung halten. Johannes wollte sich gleich morgens wieder bei Georg melden.
Angermüller ging ins Bad. Als er sich beim Zähneputzen im Spiegel sah, musste er an das denken, was er Paola über alte Männer, die in gewissen Situationen den Verstand verlieren, gesagt hatte. Seit er Astrids letzten Anruf abgehört hatte, fühlte er sich ziemlich mies. Er legte sich ins Bett, löschte das Licht und versuchte einzuschlafen. Lang würde die Nacht nicht sein, so wie er seine Mutter kannte. Doch er fand keine Ruhe. Seine Gedanken kreisten um Astrid, um Martin. Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnen können, dass Martin offensichtlich Carola als beste Freundin abgelöst hatte und zu Astrids bestem Freund geworden war, mit der Folge, dass er sich bei Astrid und Georg wie zu Hause fühlte, häufig einfach so auftauchte und am Familienleben teilnahm. Die Hoffnung, Martin würde sich wieder mit seiner eigenen Frau zusammentun, schien sich vorerst ja auch nicht zu erfüllen, und so würde er weiter mit diesem Menschen leben müssen. Wer weiß, schoss es ihm durch den Kopf, ohne Martin hätte er sich vielleicht Paola gegenüber auch anders verhalten.
Was für ein Quatsch, sagte er sich dann. Er war ehrlich genug zuzugeben, dass das nicht die Wahrheit war. Er ganz allein war für sein Handeln verantwortlich, und mit dieser unbequemen Erkenntnis schlief Georg Angermüller schließlich ein.
6
Wieder verbarg undurchdringlicher Hochnebel die Sonne, und es war ziemlich kühl, als Georg am frühen Samstagmorgen mit seiner Mutter unterwegs zum Friedhof war. Die Zeit während des Frühstücks hatte sie genutzt, um sein mittlerweile ziemlich auffälliges, blauviolett verfärbtes Auge zu kommentieren und natürlich hatte sie seinen Unschuldsbeteuerungen keinen rechten Glauben geschenkt. Ein mitfühlendes Wort oder eine Erkundigung, ob es denn wehtue, lag ihr fern. Ihre größte Sorge waren die Leute. Die würden bestimmt reden, wenn ihr Sohn ausgerechnet an ihrem Geburtstag mit so einem verunstalteten Gesicht auftrat.
An jedem Samstag machte sie sich auf, um nach den Gräbern der Familie zu schauen, zu gießen, Unkraut zu zupfen. Und wenn Angermüller seine Heimat besuchte, war es für sie eine Selbstverständlichkeit, dass er sie bei diesem Gang begleitete, was er auch gern tat, in der Hoffnung, es freue sie. Er hatte vorgeschlagen, den Wagen zu nehmen, denn der kleine Friedhof befand sich in Oberengbach, dem Nachbardorf, das sich im Norden malerisch den Berg hinaufzog. Die Entfernung betrug fast zwei Kilometer, der Weg war zum Schluss recht steil, und außerdem schleppte seine Mutter noch eine Gießkanne, eine kleine Schaufel und einen Rechen mit. Doch sie legte diesen Weg immer zu Fuß zurück und wollte auch heute dabei bleiben. Vielleicht war das ihre Art, sich fit zu halten, dachte Georg und nahm ihr wenigstens das Tragen der Gerätschaften ab.
Seine Mutter sprach nicht viel. Aber als sie am Motschmannschen Grundstück vorüberkamen, blieb sie stehen und begutachtete noch einmal in aller Ruhe den
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