Nebelschleier
auch wenn das Gerede noch so dumm war.
Sofort fiel ihm seine Schwiegermutter Johanna ein, die einer alten Lübecker Kaufmannsfamilie entstammte und nie verwunden hatte, dass ihre Tochter einen Mann geheiratet hatte, dessen Karriere wohl beim Kriminalhauptkommissar enden würde, der leicht übergewichtig und dazu noch Oberfranke war. Nie würde er ihre vorbehaltlose Anerkennung finden und wider besseres Wissen fühlte er sich von ihren dummen Sticheleien immer wieder getroffen. Doch Lübeck war nicht Niederengbach. Man konnte sich aus dem Weg gehen. Er seufzte. Man konnte an die Ostsee fahren, am Strand sitzen, sich den Wind um die Nase wehen lassen, den Wellen zusehen und den Wolken, die so schnell über den Himmel trieben, und dann Weite und Freiheit empfinden und all diesen Kleinkram hinter sich lassen – und von der Idylle in einem malerischen Dorf am Fuß der Rosenau träumen. Warum war das so? Warum wollte man immer dort sein, wo man gerade nicht war?
»Der is scho olber, der Mensch! Gell, Mamma?«
»Ja«, stimmte seine Mutter ohne Nachfrage zu und nickte zur Bekräftigung.
Lebhafter Verkehr herrschte auf der Straße, die mal Coburger, mal Neustadter hieß, in beiden Richtungen. Die Leute waren unterwegs nach Coburg zum Wochenendeinkauf und in die Gegenrichtung, wo sich auf freiem Feld außerhalb der Orte ein Gewerbegebiet ans andere reihte, mit Fachgroßmärkten, Möbel- und Autohäusern und kleinen Dienstleistungsunternehmen. Angermüller konzentrierte sich auf die Straße und warf nur einen kurzen Blick nach links auf das altbekannte Panorama, wo sich oberhalb des Wiesengrundes der Itz der dicht bewaldete Bausenberg hinzog, über dem majestätisch die Veste Coburg thronte.
Wie schon des Öfteren an diesem Morgen musste er an Astrid denken. Ein paar Mal hatte er versucht, sie zu erreichen, nervös am Telefon darauf gewartet, dass sie sich meldete, aber zu Hause lief nur der Anrufbeantworter und ihr Handy hatte sie wohl ausgeschaltet. Was wollte er ihr eigentlich sagen? Alles in Ordnung, mach dir keine Sorgen? Wozu? Die machte sie sich wahrscheinlich ohnehin nicht. Sie hatte hoffentlich einen schönen Segeltag auf der Ostsee voller Wind und Sonne – mit Martin. Der Gedanke an Martin führte ihn wieder zu Paola. Wie sollte er ihr begegnen nach der letzten Nacht? Was erwartete sie von ihm? Wenn er gekonnt hätte, dann hätte er jetzt die Uhr zurückgedreht und alles ungeschehen gemacht. Er fühlte sich Paola verpflichtet, wollte sie nicht enttäuschen, doch genauso wenig wollte er Astrid Kummer machen. Und dann war da noch sein Versprechen, das er Paola und Rosi gegeben hatte, dabei zu helfen, den zu finden, der ihren Vater auf dem Gewissen hatte. Deshalb musste er auch bald zu Paola, die ihm die Adresse dieser jungen Frau geben sollte. Du bist schon ein echter Blödel, schalt Angermüller sich selbst, hattest du nicht vor, im schönen Frankenland ein paar entspannte Urlaubstage zu verbringen?
Marga und seine Mutter bemerkten nichts von seinem inneren Hadern. Die beiden beratschlagten die ganze Zeit, welche Geschäfte sie aufsuchen würden, um nach einem passenden Kleid zu schauen, und waren offensichtlich recht unterschiedlicher Meinung. Zu der Fahrt in die Stadt hatte Georg seine Mutter wieder überreden müssen.
»Was soll ichn da?«, war ihr standardmäßig gebrauchtes Gegenargument, und es hatte einer Menge Charme bedurft, sie davon zu überzeugen, dass Marga sie unbedingt als Beraterin in Sachen Mode benötigte. Auf die Weise hoffte Angermüller, dieser Aufgabe zu entkommen. Ob Marga die Lösung auch begrüßte, wusste er nicht, sie hatte zumindest nicht protestiert. Als sie die nördliche Stadtgrenze passiert hatten und er rechts das alte Kasernengebäude erblickte, das renoviert und terrakottafarben verputzt adrett auf einem Hügel stand, kam ihm plötzlich eine Idee. Er ließ die beiden Frauen am Beginn der Fußgängerzone aussteigen – um eins wollten sie sich vor einem Modegeschäft im Steinweg wieder treffen –, wendete und fuhr zurück zur Neustadter Straße.
Durch ein schweres Holzportal betrat er die Halle der Kriminalpolizeiinspektion Coburg. Linkerhand von ihm befand sich ein Empfangsbüro, hinter dessen Scheiben zwei uniformierte Beamte saßen. Es dauerte einen Moment, dann ertönte ein Summer und er wurde eingelassen.
»Grüß Gott! Mein Name ist Angermüller, Kriminalhauptkommissar Georg Angermüller. Ich würde gern mal mit Frau Kommissar Zapf sprechen, wenn sie heute im
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