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Nebelschleier

Titel: Nebelschleier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gmeiner-Verlag
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unbedingt bald mit dem Freund darüber sprechen! Hinter dem Tor, in der Spitalgasse, wurde es richtig voll und man kam nur noch im Schneckentempo voran. Angermüller schaute aufmerksam in die Gesichter der Entgegenkommenden, mit dem Gedanken, vielleicht auf Bekannte aus alten Tagen zu treffen. Doch nur Fremde schoben sich an ihm vorüber, bis ihm dämmerte, dass er nach der falschen Generation Ausschau hielt. Er war Mitte 20, als er nach Lübeck ging und seine Zelte hier abbrach, und genau unter den jungen Menschen dieses Alters suchte er nach seinen alten Freunden.
    Wie viele Innenstädte hatte auch Coburg sein Gesicht in den letzten 20 Jahren verändert. Die meisten der alteingesessenen, individuellen Geschäfte existierten nicht mehr, dafür Filialen der großen Ladenketten, wie man sie überall in der Republik fand. Trotzdem hatte man versucht, den Charme des Residenzstädtchens zu bewahren und zumindest die Fassaden erhalten, die in der gut erhaltenen historischen Altstadt von Gotik, Renaissance und Barock bis zum Klassizismus reichten.
    Sein Geruchssinn sagte Angermüller, dass er bald sein Ziel erreicht hatte. Ein würziger Duft nach Gebratenem stieg ihm in die Nase, und bald sah er die grauweißen Rauchschwaden aufsteigen, die zum alten Marktplatz gehörten wie Prinzgemahl Albert auf seinem Denkmal und die Tauben, die auf seinem Kopf ihre Notdurft verrichteten. Er stellte sich am Bratwurststand an, wo die Würste im offenen Feuer aus Kiefernzapfen, die man hier Kühle nannte, brutzelten, und als er an der Reihe war, orderte er eine »Bratwurst nicht so sehr durch«. Es zischte vernehmlich, wenn das Fett aus den Würsten in die Glut tropfte, und die Flammen schlugen hoch. Wie eh und je arbeiteten zwei ältere Frauen im Akkord, um den Appetit der Einheimischen und Gäste auf diese nur im Coburger Land erhältliche Köstlichkeit zu stillen. Die heiße Bratwurst, die – wie es sich gehörte – außen schwarze Spuren des Kiefernzapfenfeuers trug, kam in die längs aufgeschnittene halbe Semmel, Angermüller strich ein wenig Senf darüber und biss sofort hinein. Nach so langer Zeit war der kräftige, fast ein wenig bittere, doch gleichzeitig fein aromatische Geschmack der saftigen, grobkörnigen Wurst eine wahre Wonne. Sofort vergaß er all die Dinge, die er sich aufgehalst hatte, und gab sich ganz diesem lange vermissten Geschmackserlebnis hin.
    Mit einer neuen Bratwurst in der Hand sah er sich nach einer Sitzgelegenheit um und entdeckte auf einer der Bänke vor dem Stadthaus noch ein freies Plätzchen. Still genoss er dort seine Bratwurst und blickte dabei auf das bunte Treiben des Wochenmarktes, der hier wie eh und je zwischen den Bürgerhäusern, Hofapotheke, dem Rathaus und dem Stadthaus abgehalten wurde. Kunden zogen gemächlich zwischen den Ständen umher, prüften die Angebote, Familien schleppten ihre Einkaufstaschen nach Hause, junge oder alte Leute standen bei einem Schwätzchen zusammen, Kinder fütterten Tauben mit den Resten ihrer Bratwurstsemmeln, und daneben standen Touristen, die aufmerksam ihrem Stadtführer lauschten. Neben Angermüller saß zufrieden lächelnd eine alte Frau, die Hände auf die Griffe ihres Gehwagens gelegt, und beobachte aufmerksam ihre Umgebung.
    Über der Szenerie lag ein dunstiger Schleier, durch den sanft die Oktobersonne schien, die neben dem Rathaus auf der anderen Seite des Marktplatzes stand. Die Tische vor den Cafés an beiden Seiten des Marktes waren gut gefüllt, man traf sich zum Wochenende oder rastete zwischen den Einkäufen. Es gab hier keine Spur von Hektik, der einmalig schöne Ort verströmte nichts als gemächliche Beschaulichkeit.
    Die alte Frau neben ihm ließ ein kurzes, fröhliches Lachen hören. Angermüller sah, dass sie sich über ein kleines Mädchen amüsierte, das seine Semmel in kleine Stücke gerissen hatte und nun von einem Taubenschwarm umlagert wurde, was ihr gar nicht mehr geheuer zu sein schien. Er musste auch lächeln. Die kindliche Freude der Alten, die bestimmt die 80 schon weit überschritten hatte, so offen und staunend in die Welt schaute, sie erschien ihm typisch für viele der Menschen hier. Sie schienen mit einer gewissen Naivität durchs Leben zu gehen und grundsätzlich erst einmal allem ohne Vorurteile und Arg gegenüberzustehen.
    Es gab natürlich auch andere. Die zeichneten sich vor allem durch eine engstirnige Sturheit aus, und schon waren seine Gedanken wieder beim alten Steinlein. Große Erkenntnisse hatte ihm der Besuch bei

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