Nebelschleier
den Coburger Kollegen nicht gebracht. Nur diese unangenehme Verunsicherung seinerseits. Sollte wirklich mit Johannes’ Alibi etwas nicht stimmen? Die Frage der Kommissarin, ob er denn auch seine Freunde als mögliche Täter in Erwägung gezogen hatte, hatte er im Brustton der Überzeugung spontan bejaht. War das wirklich so? Hatte er das ehrlich überprüft und wirklich alle Zweifel ausgeräumt? So ganz zufrieden war er nicht mit der Antwort, die er sich selbst darauf geben konnte.
Angermüller stand auf und verabschiedete sich von seiner Banknachbarin, die ihm freundlich nickend noch einen schönen Tag wünschte. Er ließ sich langsam durch die Menschenmenge in der Spitalgasse treiben und steuerte dann die kleine italienische Eisdiele an, die es in der Stadt schon gab, solange er denken konnte. Der Latte macchiato, den man ihm servierte, hatte die altgewohnte Qualität und er lehnte sich genießerisch auf seinem Stuhl zurück. Gegenüber im Café herrschte ein lebhafter Betrieb, man hockte und stand draußen auf der Treppe, denn alle Tische waren besetzt. Das Publikum bestand aus jungen Leuten und vielen, die sich zumindest so fühlten. Gut gekleidete Frauen, den Tennisschläger neben dem Einkaufskorb, hielten dekorativ ihre Zigarette zwischen den gepflegten Fingern, es wurde mit Handys telefoniert und Männer mit modischen Kurzhaarfrisuren spielten lässig mit ihren Autoschlüsseln. Augenscheinlich kannte man sich, man begrüßte sich mit Küsschen, Küsschen und unterhielt sich über mehrere Tische hinweg.
Ein großer, schlanker Mann, blond, sonnengebräunt, war darunter, der Angermüller irgendwie bekannt vorkam. Er hatte eine Sonnenbrille zurück ins Haar geschoben, ein Pullover lag locker um seine Schultern geschlungen, und während er redete, gestikulierte er lebhaft mit beiden Händen. Auch darin klimperte ein Autoschlüssel. Der Typ sah gut aus, ein wenig unseriös vielleicht, wie ein in die Jahre gekommener Schlagerstar. Augenscheinlich hatte er Lustiges zu erzählen, denn die Truppe um ihn herum brach immer wieder in lautes Gelächter aus.
Ein Blick auf die Uhr sagte Angermüller, dass es Zeit war, sich auf den Weg zum vereinbarten Treffpunkt zu machen, wo Marga und seine Mutter sicher schon auf ihn warteten. Beim Bezahlen wechselte er ein paar Worte mit der netten Chefin, die ihn tatsächlich wiedererkannt hatte. Als er drüben an der Caféterrasse vorbeikam, hörte er ein meckerndes Lachen, und plötzlich wusste er, wer der große Blonde war. Im Schulbus, mit dem sie aus dem Dorf zu den Schulen in die Stadt transportiert wurden, hatte er dieses Lachen jahrelang gehört. Das war unzweifelhaft Ottmar, Ottmar Fink aus Oberengbach, der Sohn vom Landrat. Ottmar kam mit ihm zusammen aufs Gymnasium, wechselte noch auf zwei andere am Ort und landete schließlich in einem Internat bei Würzburg, wo er dann irgendwann auch sein Abitur machte. Sie waren nie enger befreundet, und in den letzten Jahren, bei ihren seltenen Begegnungen, hatten sie sich höchstens mal aus der Ferne zugewunken. Doch wenn man älter wurde, legte sich eine verklärende Patina über die Jugendzeit, und wenn er jetzt die Gelegenheit hatte, dann wollte er auch mal ein paar Worte mit dem alten Schulkollegen wechseln.
»Grüß dich, Ottmar! Kennst mich noch?«
»Mensch, der Angermüller! Lang nimmer gesehen. Wie geht’s dir, altes Haus? Machst du Urlaub im schönen Coburg?«
Ottmar hatte ihn sofort erkannt. Er kam ein Stück die Treppe herunter, weit genug, um ihm kräftig auf die Schulter hauen zu können.
»Hey, was is denn mit deinem Auge passiert?«
Neugierig sah ihm Ottmar von seinem erhöhten Standpunkt ins Gesicht.
»Das ist eine lange Geschichte«, murmelte Georg, wohl wissend, dass Ottmar nicht der Typ war, der lange bei einem Thema blieb. Seine Geschichten waren meist ganz amüsant, doch Angermüller hatte ihn schon immer etwas oberflächlich gefunden. Ottmar fragte auch nicht nach. Er maß ihn mit einem Augenzwinkern.
»Und sonst? Bist ein bissle kräftiger geworden, gell?«
Angermüller nickte ergeben. Er war zwar fast genauso groß wie Ottmar, doch die Treppe machte, dass er zu ihm aufschauen musste.
»Meine Mutter hat ihren 70. Geburtstag, und da bin ich für ein paar Tage hier.«
»Wohnst du in Niederengbach?«
»Aber klar, bei meiner Mutter, und vorhin war ich sogar bei euch in Oberengbach!«
»Da wohn ich schon lang nicht mehr.«
»Warum? Ihr hattet doch so ein schönes Haus droben am Berg?«
»Das hab ich
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