Nebelschleier
schon lange verkauft. Oberengbach ist doch ein Kaff. Bin schon ewig nicht mehr in der Ecke gewesen. Mein Vater ist verstorben und meine alte Dame in Coburg im Pflegeheim, leider etwas wirr im Kopf. Ich hab seit ein paar Jahren hier nur eine kleine Wohnung. Bin halt viel unterwegs, hab in München ein Haus mit Exfrau und Sohn, ein Apartment in Florida, na ja, weißt schon.« Er sah ein wenig traurig drein bei diesen Worten. »Und du? Bist du noch da droben bei den Nordlichtern? Hamburg war das, oder?«
»Nein, Lübeck!«
»Dann eben Lübeck. Ist doch fast dasselbe.«
Angermüller erzählte kurz von Astrid, den Kindern, seinem Job, doch es schien Ottmar schon gar nicht mehr zu interessieren, seine Augen wanderten ruhelos durch die Gegend, als ob er schon den nächsten Gesprächspartner suche. Wahrscheinlich war ihm Angermüllers Leben doch einfach zu fad.
»Und was machst du so beruflich? Hast du nicht auch Jura studiert?«
»Ja, ja, hab ich«, bestätigte Ottmar zerstreut. «Ich mach Vermögensgeschäfte, Immobilien, Beteiligungen, Fonds und so. Bin halt viel unterwegs.«
Er streckte Angermüller die Hand hin.
»Entschuldige, ich muss wieder. Da ist die Petra, die hat noch was gut bei mir. Also: War schön, dich getroffen zu haben. Wir müssen unbedingt mal einen zusammen trinken! Du meldest dich, ja? Versprochen!«
Mit einem eleganten Sprung nahm er die letzten drei Treppenstufen gleichzeitig. Dann drehte er sich noch einmal um.
»Und grüß mir die Paola!«
»Wieso?«, fragte Angermüller irritiert.
»Weil ich eine Schwäche für schöne Frauen hab. Die Paola gibt’s doch noch in Niederengbach, oder? Und ihr zwei wart doch mal …«, Ottmar grinste. »Weißt schon! Tschüssle!«
Er lief auf eine junge Frau zu, die vielleicht halb so alt wie er war, und mischte sich mit ihr unter die vorbeiströmenden Menschen. Genau das war es, was Angermüller schon früher an Ottmar gestört hatte, dass er sich nie wirklich für einen interessierte und kein ernsthaftes Gespräch mit ihm möglich war. Zum Glück war ihm das heutzutage egal, sonst wäre er jetzt zutiefst gekränkt gewesen. Im Nachhinein war es ihm nur peinlich, dass er so unsicher reagiert hatte, als Ottmar ihm einen Gruß an Paola auftrug.
7
In beruhigender Gleichmäßigkeit rollten die Wellen an den Strand. Meeresrauschen brandete durch den großen Raum im ersten Stock der alten Villa, dann wurde es leiser und leiser, bis es langsam ganz verebbte. Nur noch tiefe, ruhige Atemzüge waren zu hören und dazwischen ein kleines Schnarchen. Sieben Frauen lagen mit geschlossenen Augen auf Futonmatten auf dem hellen Parkettfußboden, hatten Arme und Beine von sich gestreckt und waren völlig entspannt.
Bea sah auf die Uhr. Die Zeit schien heute überhaupt nicht zu vergehen. Noch drei Minuten. Sie dehnten sich zu einer Ewigkeit, und Beas innere Unruhe kribbelte bis in die Fußspitzen, doch manche der Frauen schauten sehr genau auf die Zeit, für die sie bezahlt hatten, und so musste Bea sich noch gedulden.
Endlich konnte sie die CD ›Spirit of the sea‹ aus dem Gerät nehmen. Dann griff sie nach dem Klöppel, der neben ihr bereitlag, und schlug sanft auf den großen Gong an der Wand hinter ihr. Ein angenehm tiefer Ton breitete sich langsam im Raum aus und unter den liegenden Frauen machte sich Bewegung bemerkbar. Sie räkelten sich wohlig, manche gähnten und setzten sich langsam auf.
»Ja, das war’s für heute. Ich hoffe, es hat euch gefallen und gutgetan.«
»Danke, Bea! Es war super angenehm wie immer! Die ganze Woche habe ich mich nicht so bei mir selbst gefühlt«, sagte eine korpulente Frau um die 50, während sie sich vom Boden hochrappelte, und eine andere meinte: »Ich hätte noch ewig so liegen bleiben können. Man müsste sich viel öfter mal die Zeit für eine Entspannung gönnen.«
»Mach doch einfach! Du hast ja hier gelernt, wie’s geht«, empfahl ihr Bea.
»Kriegen wir noch einen Tee?«, fragte jemand.
Auch der Tee nach dem Kurs gehörte mittlerweile zum Service dazu, und so nickte Bea und ging in ihre Küche, um dem Wunsch nachzukommen. Der Tee, der wunderbar nach Zimt, Nelken, Kardamom und anderen Gewürzen duftete und dessen Geschmack von einer leichten Schärfe war, sollte nach der ayurvedischen Lehre besonders auf den weiblichen Organismus eine harmonisierende Wirkung haben – jedenfalls schmeckte er ihren Kursteilnehmerinnen bestens. Der Kurs für Yoga und Entspannung am Samstag war der erste, den sie nach ihrer Rückkehr
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