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Nebelsturm

Nebelsturm

Titel: Nebelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johan Theorin
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sich zu viele Sorgen«, sagte Gerlof. »Heutzutage wird ja sofort der Seenotdienst gerufen, wenn das Wasser ein paar Schaumkrönchen hat. Früher waren die Menschen besonnener. Wenn der Wind zu stark war und man die Küste nicht erreichen konnte, dann ließ sich daran nichts ändern … man fuhr einfach weiter nach Gotland, zog das Boot an Land, drehte es um und schlief darunter, bis der Wind wieder abgenommen hatte. Dann segelte man zurück nach Hause.«
    Gerlof verstummte und versank in Gedanken. Tilda schaltete das Tonbandgerät ab.
    »Prima. Ist alles in Ordnung, Gerlof?«
    »Ja, natürlich, alles bestens.«
    Gerlof blinzelte und tauchte wieder aus seinen Tagträumen auf.
    Vor ihnen standen zwei Becher mit Glögg. Die Woche vor Weihnachten hatte mit Schnee und Sturm begonnen, und Tilda hatte eine Flasche Glühwein als Geschenk mitgebracht. In der Küche hatte sie den süßen Rotwein aufgewärmt und Rosinen und Mandeln hineingetan. Als sie mit dem Tablett und den Bechern in Gerlofs Zimmer zurückgekommen war, hatte er eine Flasche Schnaps geöffnet und in jeden Becher einen großzügigen Schuss gegossen.
    »Wie wirst du Weihnachten feiern?«, fragte Gerlof, als sich der Glögg dem Ende zuneigte. Tilda war warm bis in die Zehenspitzen.
    »Ganz ruhig und still, mit der Familie«, antwortete sie. »Ich fahre am 24. zu meiner Mutter.«
    »Wie schön.«
    »Und du, Gerlof? Willst du mit aufs Festland?«
    »Vielen Dank, aber ich bleibe lieber hier und esse mit meinen Mitbewohnern Milchreis. Meine Töchter haben mich eingeladen, zu ihnen an die Westküste zu kommen, aber ich kann nicht mehr so lange im Auto sitzen.«
    »Wollen wir noch einen letzten Versuch mit dem Tonbandgerät wagen?«, fragte Tilda nach ein paar Minuten des Schweigens.
    »Ja, meinetwegen.«
    »Gefällt es dir auch, über die Vergangenheit zu reden? Ich habe so viele Dinge über meinen Großvater erfahren.«
    Gerlof nickte.
    »Das Wichtigste habe ich aber noch nicht erzählt.«
    »Ach nein?«
    Gerlof zögerte einen Moment.
    »Ragnar hat mir viel beigebracht, als ich klein war, über das Wetter, den Wind, das Fischen und wichtige Knoten … alles Mögliche. Aber als ich älter wurde, musste ich feststellen, dass ich mich auf ihn nicht verlassen konnte.«
    »Nicht?«, wiederholte Tilda.
    »Ich begriff, dass mein Bruder unaufrichtig war … Ragnar war ein Dieb, ein Gauner. Ich kann es leider nicht anders sagen.«
    Tilda überlegte kurz, ob sie das Gerät ausschalten sollte, entschied sich aber dagegen.
    »Was hat er denn gestohlen?«, fragte sie.
    »Im Großen und Ganzen alles, was er in die Finger bekam. Nachts ist er los und hat die Aale aus fremden Fischkästen geholt. Und ich erinnere mich auch noch genau an eine andere Geschichte. Auf Åludden war eine neue Regenrinne angebracht worden. Ein Karton Rohre blieb übrig und stand auf dem Hof, den hat Ragnar einfach mitgenommen. Er hatte überhaupt keine Verwendung für die Rohre, aber da er den Schlüssel für den Leuchtturm hatte, hat er den Karton dort so lange untergestellt.Der befindet sich hundertprozentig auch heute noch an derselben Stelle. Nicht die Notwendigkeit trieb ihn an, glaube ich, sondern die Gelegenheit. Immerzu hielt er die Augen offen auf der Suche nach etwas Unverschlossenem oder Unbewachtem.«
    Gerlof hatte sich nach vorne gebeugt und erschien Tilda so engagiert wie nie zuvor.
    »Hast du nicht auch schon einmal etwas geklaut?«, fragte sie.
    Gerlof schüttelte den Kopf.
    »Nein, eigentlich nicht. Ich habe ab und zu bei meinen Frachtpreisen geschummelt, wenn ich anderen Schiffern im Hafen begegnete. Aber mich geprügelt oder geklaut habe ich nie. Ich hatte immer die Vision, dass wir einander helfen müssen.«
    »Das ist auch die bessere Einstellung«, lobte Tilda. »Die Gemeinschaft, das sind wir.«
    Gerlof nickte erneut.
    »Ich denke nicht so oft an meinen großen Bruder«, sagte er.
    »Warum nicht?«
    »Er … er ist schon so viele Jahre tot. Jahrzehnte sogar. Die Erinnerungen verblassen langsam, und ich habe das auch zugelassen.«
    »Wann hast du ihn denn zum letzten Mal gesehen?«
    »Das war auf Ragnars kleinem Hof im Winter 1961. Ich bin zu ihm gefahren, weil er nicht ans Telefon gegangen ist. Wir haben gestritten … oder sagen wir lieber, wir haben uns gegenübergestanden und uns angestarrt. Das war unsere Art zu streiten.«
    »Und worüber?«
    »Es ging um das Erbe.« Gerlof hob resigniert die Schultern. »Nicht, dass das irgendetwas genutzt hätte …«
    »Welches

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