Nebelsturm
mischt die dunkelsten Farbtöne, die sie finden kann.
Toruns Spatel und Pinsel fahren über die gespannte Leinwand wie nervöse Ratten. Meine Mutter malt den Nebelsturm, in dem sie sich verirrt hatte. Sie hält ihr Gesicht so nah an die Leinwand, dass ihre Nase fast ständig eine grauschwarze Spitze hat. Sie konzentriert sich unglaublich auf die dunklen Schatten, die vor ihr auf der Leinwand entstehen. Ich habe den Eindruck, sie befindet sich in diesen Momenten bei den Toten in ihren Tümpeln im Opfermoor.
Leinwand nach Leinwand wird mit Ölfarbe bedeckt, da aber niemand die Gemälde ausstellen oder gar kaufen will, bewahrt sie die zusammengerollten Bilder in einem leeren und trockenen Raum neben der Küche im Waschhaus auf.
Ich male auch, sofern Papier und Farbe übrig sind. Aber die Stimmung in dem Haus am Ende der Welt wird immer düsterer. Wir haben nie Geld, und Torun sieht nicht mehr genug, um mit Putzen unseren Lebensunterhalt zu bestreiten.
Anfang November wird sie neunundvierzig. Sie feiert allein mit einer Flasche Rotwein und redet davon, dass ihr Leben vorbei ist.
Ich habe das Gefühl, meines hat noch nicht einmal richtig begonnen.
Achtzehn Jahre alt bin ich, habe die Schule gerade beendet und einige von Toruns Putzjobs übernommen, um auf Besseres zu warten. An mir sind die Fünfzigerjahre spurlos vorübergegangen. Erst nach ihrem Ende sind mir ein paar Zeitschriften in die Hände gefallen, und ich habe erfahren, dass das die Zeit der Teenager mit weißen Tennissocken, wilden Partys und Rock ’n’ Roll war – davon hatte ich auf dem Land nichts mitbekommen. Unser Radio ist uralt und sendet hauptsächlich eine Mischung aus Geisterstimmen und Knistergeräuschen. Nach der herrlichen Badesaison besteht das Leben an der Küste neun Monate lang aus Dunkelheit, Wind, lehmigen Wegen, feuchter Kleidung und ständig kalten Füßen.
Mein einziger Trost in diesem Winter heißt Markus.
Markus Landkvist zog im Herbst von Borgholm in ein kleines Zimmer im Haupthaus von Åludden. Markus ist neunzehn, arbeitet als Aushilfskraft auf den Bauernhöfen der Umgebung und wartet darauf, zum Militärdienst eingezogen zu werden.
Er ist nicht meine erste Liebe, aber in jeder Hinsicht ein Fortschritt. Meine bisherigen Liebesaffären hatten sich hauptsächlich dadurch ausgezeichnet, dass ich auf dem Schulhof stand, einen Jungen anstarrte und hoffte, er würde zu mir kommenund mich an den Haaren reißen. Markus ist groß und blond und der schönste Mann im Ort, zumindest finde ich das.
»Du weißt schon, dass es hier auf Åludden spukt?«, frage ich ihn bei unserer ersten Begegnung in der Küche des Haupthauses.
»Ach, echt?«
Er sieht weder verängstigt noch besonders interessiert aus, aber wir sind ins Gespräch gekommen, und ich muss jetzt weiterreden:
»Die Toten sind in der Scheune«, erzähle ich. »Sie flüstern hinter den Wänden.«
»Das ist doch nur der Wind«, widerspricht Markus.
Es ist keine Liebe auf den ersten Blick. Aber wir sehen uns immer häufiger. Ich bin die Plappertante, die immerzu stichelt, er ist der Coole und Schweigsame. Aber ich glaube, er mag mich. Ich zeichne Markus aus dem Gedächtnis, ehe ich schlafen gehe, und träume davon, mit ihm die Insel zu verlassen.
So wie ich es sehe, sind Markus und ich die Einzigen auf Åludden, die ein Leben vor sich haben. Torun hat aufgegeben, und den anderen Männer auf dem Hof scheint es zu genügen, tagsüber zu arbeiten und abends in der Küche zu sitzen und zu schwatzen.
Ab und zu ist der Aalfischer Ragnar Davidsson da, und sie genehmigen sich einen Selbstgebrannten. Ihr Lachen dringt durch die Fenster.
Auf Åludden geht jeder seiner eigenen Wege. In diesem Winter entdecke ich den Dachboden in der Scheune. Heu gibt es dort kaum noch, dafür umso mehr zurückgelassene Gegenstände, jede Woche begebe ich mich auf eine neue Entdeckungstour. Alle Familien und Leuchtturmwärter, die auf dem Hof gelebt haben, haben ihre Spuren hinterlassen. Wie der Besuch in einem Museum ist das: Schiffszubehör, alte Holzkisten, Berge von alten Seekarten und Logbüchern. Ich arbeite mich durch die Schätze und den Müll, um tiefer in den Dachboden dringen zu können. Und eines Tages stehe ich vor der Wand an der Stirnseitedes Dachbodens. Da entdeckte ich die Wand mit den eingeritzten Namen.
CAROLINA 1868
PETTER 1900
GRETA 1943
Und viele mehr. Auf jedem der Wandbretter steht ein Name.
Ich bin fasziniert von den vielen Menschen, die auf Åludden gelebt haben und
Weitere Kostenlose Bücher