Nebelsturm
Nordmanntanne aus, die so groß war, dass sie fast an die Decke im Erdgeschoss stoßen würde. Er befestigte sie auf dem Dachgepäckträger, und dann fuhren sie zurück nach Åludden.
Kalt war es auf der Insel, minus zehn Grad. Dafür war es beinahe windstill, als sie auf Åludden ankamen. Das Wasser fror langsam zu, die Felder aber waren nur mit einer dünnen Schneedecke gepudert. Joakims Atem zeichnete weiße, bauschige Dampfschwaden in die Luft, während er die prall gefüllten Einkaufstüten ins Haus trug. Dann holte er den Tannenbaum, um ihn aufzustellen. Viel Getier würde mit dem Nadelbaum ins Wohnzimmer einziehen, das wusste Joakim, aber die meisten Käfer befanden sich im Winterschlaf und würden nie wieder erwachen.
Das erschien ihm die schönste Art zu sterben – im Schlaf, ohne Vorwarnung.
Er stellte den Baum im großen Salon auf, er reichte bis hinauf zur weißen Decke. In dem Raum stand neben dem langen Esstisch und den schlanken Stühlen nicht viel mehr. Je näher Weihnachten rückte, desto leerer kam ihm das Haus vor.
Die letzten Tage vor Weihnachten verbrachte die Familie Westin damit, das Haus zu putzen und aufzuräumen. Sie hatten zwei große Kartons mit Weihnachtsschmuck, die Joakim hervorholte: die Krippe und Kerzenständer kamen in den Salon, die rotweißen Geschirrhandtücher in die Küche, die Weinachtssterne hängtensie in die Fenster, und den Steinbock und das Schwein aus Stroh stellten sie neben den Weihnachtsbaum.
Danach schmückten sie den Baum zusammen. Livia und Gabriel hatten in der Schule Anhänger aus Papier und Holz gebastelt und hängten sie an den Baum. Joakim verzierte die höher gelegenen Zweige mit Lametta, Kugeln und Weihnachtskerzen, und auf die Baumspitze steckte er einen vergoldeten Stern aus Pappe. Dann war der Baum fertig.
Zuletzt holten sie die Tüten mit den Weihnachtsgeschenken und drapierten sie um den Baum. Joakim legte Katrines Geschenk neben die anderen.
Sie standen schweigend um den Baum.
»Kommt Mama jetzt zurück?«, fragte Livia.
»Vielleicht«, antwortete Joakim.
Die Kinder hatten lange nicht mehr über Katrine gesprochen, aber Joakim wusste, dass vor allem Livia sie sehr vermisste. Bei Kindern, anders als bei den Erwachsenen, verschwimmt die Grenze zwischen dem Möglichen und dem Unmöglichen. Vielleicht dachte Livia, sie müsste sich einfach nur besonders stark nach ihr sehnen?
»Wir werden sehen, was geschieht«, sagte er und starrte auf die Berge von Geschenken.
Es wäre wunderbar, Katrine noch einmal wiederzusehen, mit ihr zu reden und sich richtig von ihr verabschieden zu können.
Die Fernsehmeteorologen hatten über die Feiertage eine Sturmund Schneewarnung für Öland und Gotland gemeldet. Als aber Joakim zwei Tage vor dem Fest aus dem Fenster sah, konnte er am Himmel lediglich ein paar Schleierwolken erkennen. Die Sonne schien, es war sechs Grad minus und fast windstill.
Er warf einen Blick auf das Vogelhäuschen vor dem Küchenfenster und wusste, dass die Sturmwarnung berechtigt war.
Das Häuschen war leer. Es gab noch genügend Talgknödel und Körner, aber es saß kein einziger Vogel darin und pickte sie auf.
Rasputin sprang neben Joakim auf die Bank und schien auch über das leere Vogelhäuschen nachzudenken.
Die Strandwiese war ebenfalls verlassen, und auf dem Meer schwammen weder Höckerschwäne noch Eisenten. Wahrscheinlich hatten die Tiere bereits alle im nahe gelegenen Wald Unterschlupf gesucht. Vögel benötigen keine Wetterkarten, um von einem nahenden Unwetter zu erfahren, sie spüren es.
Joakim ließ die Kinder bis halb neun schlafen. Er hätte sie gerne in die Vorschule gebracht, um allein sein zu können, aber sie hatten Weihnachtsferien und würden die nächsten zwei Wochen mit ihm zu Hause verbringen, ob er wollte oder nicht.
»Kommt Mama heute nach Hause?«, fragte Livia erneut, kaum dass sie aufgestanden war.
»Ich weiß es nicht«, antwortete Joakim wie immer.
Die Atmosphäre auf dem Hof hatte sich verändert, das konnte er deutlich feststellen, und auch die Kinder schienen es zu spüren. In den weiß gestrichenen Räumen herrschte eine gespannte Erwartung.
Nach dem Frühstück holte er die Weihnachtskerzen. Er hatte sie in einem Geschäft in Borgholm gekauft, obwohl man sie gemäß der Tradition eigentlich selbst gießen sollte. Früher hatte man das in den Küchen der Höfe zu Weihnachten gemacht, nachdem die Kinder die Dochte geflochten hatten. So wurde daraus etwas sehr Persönliches. Aber die
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