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Nebelsturm

Nebelsturm

Titel: Nebelsturm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Johan Theorin
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zuckt zusammen, krümmt sich und hält sich die Hände vor den Bauch.
    »Zum Teufel«, murmelt er.
    Davidsson versucht sich aufzurichten. Doch plötzlich erstarrt er, als ob ihm etwas einfiele.
    »Zum Teufel«, sagt er, »ich glaube …«
    Er verstummt – und dann erbebt sein ganzer Oberkörper in einem gewaltigen Krampf.
    Regungslos und wortlos starre ich ihn an.
    »Das war kein Schnaps in der Flasche, Ragnar«, sage ich.
    Davidsson hat große Schmerzen, erlehnt sich gegen die Wand.
    »Ich habe sie mit etwas anderem gefüllt.«
    Davidsson erhebt sich und wankt an mir vorbei zur Tür. Das verleiht mir neue Kraft.
    »Verschwinde«, rufe ich.
    Ich bekomme einen leeren Zinkeimer zu fassen und schlage damit auf seinen Rücken.
    »Raus!«
    Er gehorcht, und ich folge ihm in den Schnee hinaus und sehe zu, wie er auf den Zaun zusteuert. Ihm gelingt es, das Tor zu öffnen, und er stolpert weiter hinunter zum Strand.
    Blutrot leuchtet das Licht des Südturms im fallenden Schnee, der Nordturm ist jetzt erloschen.
    An der Mole sehe ich das offene Motorboot von Ragnar auf den Wellen tanzen. Die Brecher schlagen mit lautem Getöse auf dem Strand auf. Ich sollte versuchen, ihn aufzuhalten, bleibe aber am Hang stehen und beobachte ihn, wie er über die Steinmole schwankt und die Leinen löst. Dann bleibt er stehen, krümmt sich erneut und muss sich übergeben.
    Ihm gleiten die Leinen aus den Händen, die Wellen spielen mit dem Boot und stoßen es immer weiter von der Mole weg, hinaus aufs offene Meer.
    Ragnar geht es mittlerweile zu schlecht, um sich um sein Boot zu kümmern. Er wirft einen letzten Blick auf das Meer hinaus und stolpert dann zurück an Land.
    »Ragnar!«, schreie ich.
    Wenn er mich bittet, helfe ich ihm, aber ich glaube nicht, dass er mich hört. Er bleibt nicht stehen, als er den Strand erreicht hat, sondern geht weiter nach Norden. Nach Hause. Kurz darauf wird er von der Dunkelheit verschluckt und ist nicht mehr zu sehen.
    Ich gehe zurück, zu Torun ins Waschhaus. Sie ist noch wach und sitzt wie gewöhnlich auf ihrem Stuhl am Fenster.
    »Hallo, Mama.«
    Sie dreht sich nicht um.
    »Wo ist Ragnar Davidsson?«, fragt sie nur.
    Ich gehe seufzend zum Kamin.
    »Er ist weg. Er war hier … aber jetzt ist er gegangen.«
    »Hat er die Gemälde entsorgt?«
    Ich halte den Atem an und drehe mich um.
    »Die Gemälde?«, wiederhole ich und spüre die Tränen aufsteigen. »Wie kommst du darauf?«
    »Ragnar hat mir gesagt, dass er das machen würde.«
    »Nein, Mama«, sage ich. »Deine Bilder sind noch in der Vorratskammer. Ich kann sie holen …«
    »Das sollte er aber machen«, sagt Torun.
    »Was? Was meinst du damit?«
    »Ich habe Ragnar gebeten, sie ins Meer zu werfen.«
    Es dauert vier oder fünf Sekunden, bis ich verstehe, was sie gerade gesagt hat – dann zerbricht etwas in mir, und es ist, als würden sich gefährliche Flüssigkeiten in meinem Gehirn mischen. Ich stürze mich auf Torun.
    »Dann bleib doch hier sitzen, verfluchtes altes Weib!«, schreie ich. »Bleib hier sitzen, bis du stirbst! Verfluchte, blinde …«
    Ich schlage immer wieder mit der flachen Hand zu, Torun kann die Ohrfeigen nur entgegennehmen. Sie sieht sie nicht kommen.
    Ich zähle die Schläge, sechs, sieben, acht, neun, und höre erst mit dem zwölften Schlag auf.
    Wir sind beide außer Atem und holen pfeifend Luft. Durch die Fenster hört man das traurige Heulen des Windes.
    »Warum hast du mich damals mit ihm allein gelassen?«, frage ich. »Du hättest sehen müssen, wie unaufgeräumt es bei ihm war, Mama, und du hättest riechen müssen, wie er gestunken hat … du hättest mich niemals mit ihm allein lassen dürfen, Mama.«
    Ich hole Luft.
    »Aber da warst du offensichtlich auch schon blind.«
    Torun starrt mit roten Wangen ins Leere. Ich glaube, sie hat keine Ahnung, dass ich den ekligen Doktor aus Stockholm meine.
    Damit endete meine Zeit auf Åludden. Ich habe den Hof verlassen und bin nie wieder zurückgekehrt. Ich habe Torun noch einen Platz in einem Pflegeheim besorgt, aber wir haben nie wieder ein Wort miteinander gesprochen.
    Am nächsten Tag erreichte uns die Nachricht, dass die Fähre zwischen Öland und dem Festland im Sturm gekentert ist. Mehrere Fahrgäste sind in dem eiskalten Wasser umgekommen. Einer davon war Markus Landkvist.
    Ein anderes Opfer des Sturmes war der Aalfischer Ragnar Davidsson. Er wurde einige Tage später tot am Strand gefunden. Ich fühlte mich für seinen Tod nicht schuldig – ich fühlte

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