Nebelsturm
betritt.
Die Stimme der Frau des Leuchtturmmeisters war schon immer hoch und schrill, aber jetzt klingt sie noch durchdringender, weil sie das Jaulen des Windes übertönen muss.
Kerstin macht einen Knicks, stellt sich schweigend an den großen Tisch und wartet, bis alle Augen auf sie gerichtet sind. Sie denkt an ihre große Schwester in Amerika.
Dann legt sie das Bündel aus der Scheune vor Sven Karlsson auf den Tisch.
»Guten Abend, Herr Leuchtturmmeister«, sagt Kerstin mit lauter Stimme und wickelt die Wolldecke auf. »Ich habe hier etwas, das Sie offenbar verloren haben.«
4
J oakims dritter Morgen auf Hof Åludden war der Beginn eines glücklichen Tages, der für viele Jahre sein letzter sein sollte – vielleicht sogar für immer.
Leider war er zu angespannt, um zu erkennen, wie gut es ihm eigentlich ging.
Am Abend zuvor waren Katrine und er erst spät zu Bett gegangen. Nachdem die Kinder eingeschlafen waren, hatten sie die südlichen Räume im Erdgeschoss inspiziert und darüber nachgedacht, mit welchen Farben sie am besten ihre verschiedenen Persönlichkeiten zum Ausdruck bringen könnten. Weiß sollte im Erdgeschoss die Grundfarbe sein, das stand fest, sowohl für die Wände als auch für die Decken. Aber die Holzelemente wie die Deckenbalken oder die Türrahmen würden von Raum zu Raum farblich variieren können.
Gegen halb zwölf waren sie ins Bett gegangen. Alles war still gewesen. Aber nur wenige Stunden später hatte Livia wieder nach ihrer Mutter gerufen. Katrine hatte nur einen leisen Seufzer ausgestoßen und wortlos das Schlafzimmer verlassen.
Die ganze Familie stand kurz nach sechs Uhr auf. Da war der Horizont im Osten noch pechschwarz.
Das lange Winterdunkel würde bald beginnen, das wusste Joakim. Es waren nur noch zwei Monate bis Weihnachten.
Die Familie versammelte sich um halb sieben in der Küche. Joakim wollte sich so schnell wie möglich auf den Weg nach Stockholm machen und hatte seinen Tee fast schon ausgetrunken, als sich Katrine mit den Kindern an den Tisch setzte. Als er seinen Becher in die Spülmaschine stellte, bemerkte er einen dünnen orangefarbenen Lichtstreifen am Horizont. Noch hielt das Meer die Sonne versteckt, und darüber zog ein Schwarm Vögel in einer V-Formation leicht schwankend über die Ostsee.
Waren das Gänse oder Kraniche? Es war noch zu dunkel, um sie deutlicher sehen zu können, und er war nicht besonders gut in der Bestimmung von Zugvögeln.
»Seht ihr die Vögel dort am Himmel?«, fragte er über die Schulter. »Die tun, was wir gerade getan haben … nach Süden ziehen!«
Niemand antwortete. Katrine und Livia kauten auf ihren Broten herum, und Gabriel trank hochkonzentriert seinen Brei aus seiner Trinkflasche.
Die beiden Leuchttürme ragten wie zwei Schlosstürme in den Himmel, der südliche blinkte wie gewohnt und sandte sein rötliches Licht über das Wasser. Aus den Glasscheiben des Nordturms jedoch schien ein schwächeres, weißes Licht, das nicht blinkte.
Das war deshalb so merkwürdig, weil der zweite Turm überhaupt nicht mehr in Betrieb war. Joakim lehnte sich gegen das Fenster und sah hinaus. Vielleicht war das weiße Licht auch nur eine Reflexion des Sonnenaufgangs, andererseits schien es direkt aus dem Turm zu leuchten.
»Sind da noch mehr Zugvögel zu sehen, Papa?«, fragte Livia hinter ihm.
»Nein.«
Joakim riss sich vom dem Anblick der Leuchttürme los und ging zurück an den Küchentisch, um abzuräumen.
Die Zugvögel hatten noch einen langen Weg vor sich und Joakim auch. Vierhundertfünfzig Kilometer standen ihm an diesem Tag bevor, um die letzten Dinge aus ihrem alten Haus in Bromma zu holen. Danach würde er noch eine Nacht bei seiner Mutter im Reihenhaus in Jakobsberg übernachten und am nächsten Tag zurück nach Öland fahren.
Das würde seine letzte Reise in die Hauptstadt sein, jedenfalls in diesem Jahr.
Gabriel wirkte vergnügt und fröhlich, aber Livia sah schlecht gelaunt aus. Katrine hatte sie wecken müssen, und sie war noch immer schlaftrunken und schweigsam. In der einen Hand hielt sie ihr Butterbrot, hatte die Ellenbogen auf den Tisch gestützt und starrte in ihr Milchglas.
»Komm, Livia, iss auf.«
»Mm.«
Sie war ein Morgenmuffel, wenn sie aber erst einmal im Kindergarten war, heiterte sich ihre Stimmung meist schnell auf. Sie hatte letzte Woche die Gruppe gewechselt und war jetzt mit älteren Kindern zusammen, und es schien ihr dort sehr gut zu gefallen.
»Was macht ihr denn heute im
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