Nebelsturm
hat bestimmt jemanden die Küstenstraße entlangfahren sehen … Danach kannst du Dagmar besuchen, die an der Kreuzung nach Altorp wohnt, und sie dasselbe fragen. Und Edla Gustafsson, Edla aus Hultet, ist ebenfalls eine gute Gesprächspartnerin. Sie wohnt an der Landstraße, in der Nähe von Speteby auf dem Weg nach Borgholm.«
Tilda sah auf die Namensliste in ihren Händen.
»Vielen Dank«, sagte sie. »Ich werde da mal anklopfen, wenn ich in der Nähe bin.«
Dann schaltete sie das Tonbandgerät ein.
»Gerlof … Wenn du an deinen Bruder Ragnar denkst, woran erinnerst du dich dann?«
Gerlof schwieg zunächst, er musste sich konzentrieren.
»An Aale«, sagte er schließlich. »Er liebte es, mit seinem kleinen Motorboot rauszufahren und im Herbst die Bodennetze einzuholen. Er liebte es auch, Aale zu fangen und sie auszutricksen. Zu testen, mit welchen Ködern er die Weibchen am besten anlocken und sie nachts in seinen Reusen fangen konnte.«
»Weibchen?«
»Man fängt und isst nur die Weibchen.« Gerlof lächelte sie an. »Die Männchen will keiner haben, sie sind zu klein und zu schwach.«
»So verhält es sich leider auch bei vielen Männern«, murmelte Tilda.
16
W ann ist Weihnachten, Papa?«, fragte Livia eines Abends beim Zubettgehen.
»Bald … in einem Monat.«
»Und wie viele Tage sind das?«
»In …«, Joakim zählte die Tage auf dem Pippi-Langstrumpf-Kalender über ihrem Bett ab, »… achtundzwanzig Tagen.«
Livia nickte, aber sie sah nachdenklich aus.
»Warum fragst du? Freust du dich so auf die Geschenke?«
»Nein«, schüttelte Livia den Kopf. »Aber Mama kommt doch bestimmt an Weihnachten zurück?«
Joakim schwieg.
»Das ist nicht sicher.«
»Doch.«
»Nein, ich glaube, wir sollten nicht davon ausgehen, dass …«
»Doch!«, rief Livia laut. »Mama kommt an Weihnachten zu uns!«
Dann zog sie ihre Bettdecke bis zur Nasenspitze hoch und weigerte sich, die Unterhaltung fortzusetzen.
Livia hatte seit einiger Zeit ein neues Schlafmuster. Sie schlief zwei Nächte tief und fest, aber in der dritten Nacht war sie unruhig und rief nach ihm.
»Papa?«
Normalerweise ging es nach Mitternacht los, und jedes Mal schreckte Joakim aus dem Schlaf.
Auch Kater Rasputin wurde von Livias Rufen geweckt. Er hüpfte auf den Fenstersims und starrte hinaus in die Dunkelheit, als würde er dort draußen jemanden beobachten.
»Paa-pa?«
Zumindest war das ein Fortschritt, dachte Joakim auf dem Weg zu Livias Zimmer. Sie rief nicht mehr nach Katrine, sondern nach ihm.
Es war Donnerstagnacht. Er setzte sich auf die Bettkante und streichelte ihr über den Rücken. Sie wachte nicht auf, sondern drehte sich mit dem Gesicht zur Wand und atmete ruhig weiter.
Joakim blieb sitzen und wartete darauf, dass sie anfing zu sprechen. Und so war es auch. Nach einigen Minuten begann sie mit ruhiger und etwas monotoner Stimme zu reden.
»Papa?«
»Ja?«, erwiderte er leise. »Siehst du jemanden, Livia?«
»Mama«, sagte sie.
Dieses Mal war er vorbereitet. Aber seine Unsicherheit, ob sie wirklich schlief oder sich in einer Art Starre befand, war noch nicht gewichen, ebenso wenig seine Befürchtung, ob diese Unterhaltung gut für sie war. Oder für ihn.
»Wo ist sie?«, fragte er. »Wo ist Mama?«
Joakim sah, wie sie ihre rechte Hand hob und winkte. Er drehte sich um, sah aber natürlich nichts.
»Kann Katrine … will Mama mir etwas sagen?«
Keine Antwort. Wenn die Fragen zu lang waren, blieben sie meistens unbeantwortet.
»Wo ist sie?«, fragte er dafür. »Wo ist Mama, Livia?«
Auch darauf keine Antwort.
Joakim überlegte und versuchte etwas anderes:
»Was hat Mama unten an der Mole gewollt? Warum ging sie zum Wasser?«
»Sie wollte … etwas erfahren.«
»Was erfahren?«
»Die Wahrheit.«
»Die Wahrheit? Von wem?«
Livia schwieg.
»Wo ist Mama jetzt?«
»Ganz nah.«
»Ist sie … ist sie im Haus?«
Livia antwortete nicht. Joakim konnte Katrines Nähe nicht spüren. Sie war nicht da.
»Kannst du mit ihr reden?«, versuchte er. »Hört sie dir zu?«
»Sie sieht zu.«
»Kann sie uns sehen?«
»Vielleicht.«
Joakim hielt den Atem an. Verzweifelt suchte er nach der richtigen Frage.
»Was siehst du, Livia?«
»Da steht jemand unten am Strand … bei den Leuchttürmen.«
»Das muss Mama sein. Hat sie …«
»Nein«, unterbrach ihn Livia. »Ethel.«
»Was?«
»Es ist Ethel.«
Joakim lief es kalt den Rücken herunter.
»Nein«, sagte er. »Das kann sie nicht
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