Nebeltod auf Norderney
bitte ein Stück von der Rumflockentorte und zwei Kännchen Tee«, sagte Heide Heynen. Sie sah ihrer Mutter wirklich sehr ähnlich.
Okka Heynen trug ein langes Bedienungskleid, war äußerst schlank und hatte ihr graues Haar zu einem Dutt frisiert.
»Aber gerne«, antwortete sie und verließ den Tisch.
»Meine Mutter war ebenfalls Lehrerin. Sie ist leider mit 67 Jahren verstorben«, erzählte Jesko und berichtete von seiner Zeit zu Hause.
Heide hörte ihm gern zu, denn er konnte witzig vortragen. Frau Heynen trat an den Tisch. Sie brachte die Stövchen und das Teegeschirr. Es trug das Muster der ostfriesischen Rose.
»Tee und Kuchen kommt gleich«, sagte sie lächelnd und ging. Kurz danach brachte sie die Teekännchen und die Torte.
»Sie dürfen uns gerne Gesellschaft leisten«, sagte Jesko Calvis, während Heide Heynen ihm und sich selbst den Tee einschenkte.
»Danke, aber ich habe noch zu tun. Lassen Sie sich die Torte schmecken und fühlen Sie sich wohl in unserem Hause«, sagte sie und ging.
Sie aßen das hervorragende Gebäck, kamen auf das leidige Thema Schule zu sprechen und stellten fest, dass sie bei der Beurteilung der Bildungspolitik der gleichen Meinung waren. Auch auf kulturellem Sektor stellten sie Übereinstimmungen fest. Sie hatten beide mit großem Interesse »Sakrileg« von Dan Brown gelesen, mochten die klassische Musik und lagen nicht weit auseinander mit ihren Lieblingsdirigenten und ihrer Lieblingsmusik.
Als sie schließlich nach ihren Jacken griffen, waren sie sich beide ein gewaltiges Stück nähergekommen.
»Betrachten sie Tee und Kuchen als unseren Beitrag zu Ihrem Inselausflug«, meinte die Mutter, als sie bezahlen wollten. Jesko Calvis protestierte ohne Erfolg.
Sie spazierten zum Meerwasserwellenbad, schauten sich das Kurhaus an, besuchten die alte und die beiden neueren Kirchen und vergaßen auch nicht das Glockengerüst, das Wahrzeichen der Insel, aufzusuchen. Sie lagen gut in der Zeit.
Sie hielten sich an den Händen und betraten das Schiff, kurz bevor es abfuhr. Der Wind war aufgefrischt. Sie suchten den Salon auf, setzten sich eng aneinander geschmiegt auf eine Bank, schauten sich an und küssten sich hin und wieder. Sie waren glücklich.
Carmen Angeniess hatte die Beisetzung ihres Vaters mustergültig organisiert. Der Friedhofsarbeiter hatte das Grab ausgeworfen. Die Sargträger standen vor der Kapelle versammelt, während Pastor Herpers vor den wenigen Gästen aus Düsseldorf in einer Trauerandacht mit einer zu Herzen gehenden kurzen Ansprache des Toten gedachte und im Namen aller Beteiligten von ihm Abschied nahm.
Der Rede des Pastors entnahm Rudi Spatfeld, dass er den Verstorbenen gekannt hatte. Dr. Angeniess war verstorben, ohne eine Wiedergutmachung geschehenen Unrechts erfahren zu haben, wie der Mann der Kirche sich ausgedrückt hatte.
Carmen hatte viel geweint und beim Gang zum Grab Frau Remsky an den Arm gefasst, die untröstlich war und ihr Gesicht hinter einem Schleier verborgen hatte.
Auch Frau Spatfeld fühlte sich fremd in Groß-Gerau, erst recht auf dem weiten Friedhof vor dem aufgeworfenen Grab. Sie schritt mit ihrem Mann hinter Carmen und der Polin her, warf einen Strauß Margeriten auf den Sarg des Mannes, zu dem sie keinen Zugang finden konnte. Dennoch empfand sie düster und fast unheimlich eine Angst, ihr Sohn Albert würde in etwas verstrickt, was über seine Bindung mit Carmen hinausging. So atmete sie auf, als Pastor Herpers ein letztes Vaterunser betete, den Segen spendete und sich verabschiedete.
Der Friedhof war schön in der hügeligen Landschaft gelegen und grenzte an den Wald, der bis Frankfurt reichte. Die Mittagssonne schien, und es war warm in der Trauerkleidung.
Auf Anraten von Carmen ließen sie den Mercedes auf dem Parkplatz des Friedhofs stehen und gingen zum Gasthof »Zur Linde« zu Fuß, der am Rande der Altstadt in etwa drei Kilometern Entfernung lag. Der Wanderweg war von schattigen Bäumen umgeben und bot zum Teil eine schöne Aussicht auf das Maintal. Zudem half er Carmen und der Polin, sich von dem traurigen Ereignis ablenken zu lassen. Sie hatten reichlich Zeit, denn Carmen hatte für das Mittagessen zu 13 Uhr 30 einen Tisch bestellt.
Der Gasthof »Zur Linde« war ein Haus mit Tradition. Bereits vor dem gelben Putzbau verriet der knochige, wuchtige Baum auf einem Schild sein Alter von 250 Jahren. Der große Innenraum des Restaurants war holzgetäfelt. Eichenbalken durchzogen die Decke. Die Serviererinnen trugen
Weitere Kostenlose Bücher