Nebeltod auf Norderney
Kevin war sehr erstaunt, weil die Mama gar nicht traurig war.
»Mama, Papa sagte, fünf Wochen ist eine lange Zeit. Wieso bist du so lustig, wenn wir verreisen«?, fragte der Sohn und hatte Tränen in den Augen.
»Ich freue mich für dich. Du und Papa am Strand! Dann die Sonne«, antwortete sie und sah den Sohn liebevoll an.
Zwischen ihr und Albert war es schon lange nicht mehr wie früher. Er verzichtete darauf, sie mit seinen Wünschen zu bedrängen. Wenn sie zu Hause war und er abends zu ihr kam, um mit ihr zu schlafen, dann verzog sie angewidert das Gesicht. Sie fand sein menschliches Verlangen »tierisch«. Auch musste er sich von ihr sagen lassen, dass er ein Versager war, aus dem nur ein Hausmann geworden war.
Diese meist in lächelnder Weise so dahingeworfenen Bemerkungen erregten seine Bitterkeit. Sie aß meistens in der Mensa des Klinikums und bezeichnete seine Kochkünste als die mageren Reste seiner groß gepriesenen Kreativität. Ihre stichelnde Ironie konnte schmerzen. Wohlgemerkt, sie bediente sich nicht immer dieser Redensarten, doch wenn sie ihren Willen nicht bekam, konnte sie noch deutlicher werden. Zugegebenerweise kann nur bestätigt werden, dass Carmen eine ausgezeichnete Ärztin war, über Führungsqualitäten verfügte und vor einer sehr erfolgreichen Laufbahn stand. Verständlich, sie hatte Zeit, ihren beruflichen Verpflichtungen nachzukommen.
Carmen drückte Kevin, gab ihm einen Kuss, reichte ihm den Rucksack an. Sie gab Albert die Hand.
»Ich wünsche euch schöne Ferien! Pass gut auf Kevin auf!«, sagte sie und küsste ihn auf die Wange.
Sie winkten ihr zu, als sie in den Wagen stieg und davonfuhr. Albert nahm Kevin an die Hand und ging mit ihm zum Abfertigungsschalter. Sie flogen mit der Lufthansa nach Malaga.
Kevin war schon mehrmals nach Mallorca geflogen, als die Oma und der Opa noch lebten. Er kannte sich aus. Sie sahen durch die großen Trennscheiben auf die wartenden Maschinen. Auch drinnen hörte man ihre Motoren. Die Zeit verstrich schnell. Schließlich stellten sie sich in die Warteschlange, nahmen die Bordkarten in Empfang und stiegen ein.
Punkt 8 Uhr verließ die Maschine die Startbahn und hob ab. Kevin hatte rote Bäckchen vor Aufregung. Er hatte einen Fensterplatz bekommen und hatte einen herrlichen Ausblick, denn nur wenige Wolken trieben bei aufgehender Sonne am Himmel. Die Bordbedienung servierte ein Frühstück.
Albert betrachtete voller Stolz seinen Sohn. Er dachte an Carmen, die es auch ihm gegenüber an Herzenswärme vermissen ließ.
In Malaga mussten sie am Fließband auf ihr Gepäck etwas warten. Dann verließen sie das Gebäude. Sie stiegen vor dem Flughafen in ein Taxi und ließen sich nach Nerja fahren. Die alte Küstenstadt lag 60 Kilometer vom Flughafen entfernt. Die Fahrt am Meer entlang durch Kleinstädte, Fischerdörfer und aufragende Berge verlief recht angenehm. Das Hotel »Perla Negra« lag direkt am Strand.
Für Heide Calvis brach eine Welt zusammen. Sie hatte alles Menschenmögliche getan, das Baby gesund zu Welt zu bringen. Von der Ernährung bis hin zum Schwangerschaftssport war sie den Ratschlägen des Gynäkologen gefolgt.
Es war kein Trost für sie, zu erfahren, dass dieser Kindestod auf alle zehntausend Geburten ein einziges Mal auftrat. Sie machte sich dennoch Vorwürfe. Erst recht tat es ihr auch wegen Jesko leid. Er hatte schon voreilig Spielsachen für das Baby gekauft, von dem es hieß, dass es ein Junge werden würde.
Jesko machte aus seiner Enttäuschung keinen Hehl. Natürlich machte er Heide keinen Vorwurf. Erschwerend kam hinzu, dass sie bereits älter war.
Sie unternahmen im Frühjahr eine Autoreise durch Frankreich mit einem mehrtägigen Aufenthalt in Lourdes, und da sie gläubig war und sich von der Madonna Hilfe versprach, gab sie sich den Gebeten hin. Umso größer war die Freude, als sie im Mai alle Symptome einer Schwangerschaft spürte.
Jesko schöpfte wieder Hoffnung und schickte Heide für ein paar Wochen nach Baltrum. Er erhoffte sich davon eine beruhigende Wirkung auf Heide.
Da ereignete sich das Unfassbare. Sie half der Mutter am Nachmittag in der Küche des Cafés. Plötzlich brach sie zusammen. Der sofort alarmierte Arzt erkannte schnell die Ursache. Bei Heide waren Blutungen eingetreten. Der Inselarzt forderte einen Hubschrauber an und ließ die Patientin nach Sanderbusch zum Landeskrankenhaus fliegen. Heide wurde sofort operiert.
Jesko Calvis befand sich zu der Zeit bei einem Bauherrn in Oldenburg.
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