Nebeltod auf Norderney
Schiffe fuhren zu Berg und zu Tal.
Kevin hatte sich in ein Bilderbuch vertieft.
»Die alte Leier«, sagte Albert und verzog angewidert den Mund.
»Das muss du doch einsehen. Dein Studium war für die Katz. Mach ein paar Kurse an der Volkshochschule. Es sieht nicht gut aus mit unseren Finanzen«, empörte sie sich.
Er blickte sie an. Ihr Gesicht war faltig geworden im Krankenhausdienst. Ihr schwarzes Haar zeigte bereits einige silberne Fäden. Sie war erfolgreich in ihrem Beruf. Doch dabei hatte sie mit der Zeit an weiblicher Ausstrahlung verloren und mehr und mehr eine autoritäre, bestimmende Grundhaltung eingenommen. Kevin zu erziehen, dazu war sie nicht in der Lage. Ihr fehlte die Geduld. Sie hatte es sich angewohnt, Albert zu demütigen.
Gut, er hatte gemalt und die Bilder nicht verkaufen können. Er hatte sich im Haushalt bewährt, und, das konnte sie nicht vom Tisch wischen, er hatte Kevin großgezogen. Der Junge war sein Ein und Alles. Recht hatte sie, was ihre finanzielle Situation betraf. Doch noch hatte er Reserven. Sie stammten vom Erbe, das sein Vater ihm hinterlassen hatte.
Carmen hatte nichts mit in die Ehe gebracht und, das war kein Geheimnis, sie liebte es, sich schick zu kleiden und teuren Schmuck zu tragen.
Kevin war das Buch aus den Händen gefallen. Er war eingeschlafen. Er sah süß aus.
Albert Spatfeld schwieg. Seine Frau fuhr gut und sicher. Er betrachtete die Landschaft, die im Monat Mai im Gegensatz zu Spanien ein saftiges Grün trug. Zwischendurch leuchteten gelbe Rapsfelder auf. Er verfiel in Gedanken und dachte an Heide Calvis, die das Schicksal so früh zur Witwe gemacht hatte.
Seine Frau verließ in Aachen-Brand die Autobahn und fuhr über die Hauptstraße zum Café. Sie hielt an.
»Albert, hol Kuchen«, sagte sie zu ihm.
Er stieg aus, kaufte drei Reistörtchen. Dann fuhren sie nach Hause.
Jesko Calvis hatte ein Testament bei einem namhaften Wilhelmshavener Notar hinterlegt, in dem er verfügt hatte, dass seine Frau Heide die alleinige Haupterbin war und er für sich, falls er früher sterben würde als seine Frau, eine Urnenbestattung wünschte und im Grab seiner Eltern ruhen möchte. Dem galt es nachzukommen.
Heide Calvis nahm Abschied von Jesko im kleinen Kreis ihrer Familieund den leitenden Angestellten seiner Firmen in einer Trauerstunde in der Friedhofskapelle von Hage. Danach wurde die Leiche ihres Mannes der Feuerbestattung zugeführt. Und in der Tat wurde die Urne mit seiner Asche ein paar Wochen später in Wilhelmshaven auf dem Südfriedhof beigesetzt.
Heide wunderte sich selbst über die Kraftreserven, die sie mobilisierte und die ihr halfen, die Anstrengungen zu ertragen.
Für sie zufrieden stellend verliefen auch die Verkaufsverhandlungen. Soweit die Abwicklungen ihrer Transaktionen ihr dazu Zeit ließen, kümmerte sie sich auch auf Baltrum um ihre Eltern. Ihr Vater hatte nur wenige Tage nach der Beisetzung einen Schlaganfall erlitten und befand sich zurzeit in der Klinik in Lingen. Ihre Mutter hatte in Lingen ein Hotelzimmer genommen, um in der Nähe ihres Mannes zu sein, obwohl ihr eigener Gesundheitszustand alles andere als gut war.
Sie vermietete das Café und kaufte sich auf der Insel eine geräumige Eigentumswohnung, in der sie mit ihrem Vater wohnte. Glücklich fühlte sich Heide Calvis nicht.
Eines Tages brachte eine Postkarte etwas Freude in das Haus auf Baltrum. Sie zeigte den Aachener Kaiserdom naiv von Kinderhand gemalt. Absender war Kevin Spatfeld. Er bestellte nur »herzliche Grüße« und wünschte »alles Gute«. Mehr nicht. Dennoch war das Grund genug, sich zu freuen.
Es war an einem der Hundstage, jenen heißen Tagen Ende August, an denen man den Wunsch verspürt, ständig kalte Getränke zu sich zu nehmen und im kühlen Schatten zu sitzen, nichts zu tun, sondern nur vor sich hin zu dösen.
Albert Spatfeld hatte für Kevin an diesem Samstagmorgen das Planschbecken aufgepumpt, es mit kaltem Wasser gefüllt und im Garten in die Sonne gestellt. Kevin, bekleidet nur mit der Badehose, saß im Wasser, hatte sein Playmobil-Piratenschiff den Wogen anvertraut und ließ es auf Kaperfahrt segeln. Sein Vater befand sich in der Nähe in den Blumenbeeten und zupfte Unkraut aus der dürren Erde. Die Mutter befand sich im Haus. Sie bügelte ihre teuren Blusen.
Es war ein friedlicher Morgen, ohne Nörgeln und Gezanke. Der Vater suchte hin und wieder die Küche auf, um nach dem Essen zu sehen. Er kochte eine Erbsensuppe, das konnte Kevin im Garten
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