Nebeltod auf Norderney
Pastor sprach laut und vernehmlich noch einige Worte des Trostes in den Wind. Dann beteten alle ein Vaterunser.
Kevin biss die Zähne zusammen, als er an die Grube trat. »Tschüß Mama«, sagte er und ließ die Rosen in das Grab fallen. Dabei kamen ihm die Tränen. Auch Albert weinte und trennte sich von den Blumen. »Carmen, ein letzter Gruß!«
Soweit man das sagen kann, war es eine gelungene Beerdigung. Für Albert Spatfeld und seinen Sohn zog die Normalität wieder ein. Albert kaufte Leinwand, spannte sie großflächig auf Rahmen und begann sich seiner Malerei zu widmen. Mit einer bisher nicht gekannten Energie und Ausdauer entstanden Werke, die Kevin ins Staunen versetzten. Die Bilder seines Papas erinnerten ihn an die Geschichten von Riesen, die mit den gewandten Zwergen ihre Not hatten. Es war anders als früher. Des Öfteren kamen fremde Männer zu Besuch und bewunderten Papas Malerei.
Zu Albert Spatfelds großer Freude stellte die Galerie am Dom zwei seiner Werke aus. Das war mehr als eine Ehre.
Doch für Kevin war die größte Überraschung der Brief aus Ostfriesland. Tante Heide hatte geschrieben. Sie wohnte auf der Insel Baltrum. Die Insel lag, wie der Papa ihm auf einer Karte zeigte, bei Norden in der Nordsee.
Tante Heide hatte, wie sein Papa ihm sagte, inzwischen einen weiteren schweren Schicksalsschlag erlitten. Ihre Mutter war ganz plötzlich an einem Herzversagen verstorben. Tante Heide musste sich nun um ihren Vater kümmern, der im Rollstuhl saß und sich nicht mehr selbst helfen konnte.
Sie hatte auch für Kevin einen kleinen Zusatzbrief verfasst, den sie mit Zeichnungen versehen hatte. Aus den Zeilen klangen herzliche Wärme und ihre Sehnsucht nach Kevin heraus.
Sie fragte nach Carmen Spatfeld und wünschte zu wissen, ob sie sich immer noch ohne Rücksicht auf die eigene Gesundheit der Arbeit in der Klinik verschrieben hätte. Sie selbst arbeitete noch nicht wieder in der Schule. Ihr Mann hatte ihr ein großes Vermögen hinterlassen. Zu der Wohnung in Nerja kam noch eine Ferienwohnung auf der Insel Norderney. Auf der Insel Baltrum hatten sie das Café verpachtet. Sorgen bereitete ihr der geliebte Vater, dem es nach einer gefährlichen Gehirnblutung gar nicht gut ging und der an den Rollstuhl gefesselt war. Sie hatte eine Krankenschwester eingestellt, die ihn fachgerecht betreute. Vielleicht wollte sie dennoch im Herbst wieder nach Spanien fahren, und wenn es nur für wenige Tage sei. Eine große Freude würde es ihr bereiten, wenn Kevin sie begleiten könnte. Über seinen Brief habe sie sich sehr gefreut. Durch die Zeilen habe sie gelesen, dass Kevin auch sie gern hatte. Daher bat sie, Kevin einen Besuch auf Baltrum zu gestatten.
Albert Spatfeld freute sich sehr über diesen Brief, und es war, als hätte er ihn erwartet. Die Zeiten hatten sich geändert. Nun war nicht nur ihr unzufriedener Mann tot, sondern auch seine Frau war auf tragische Weise ums Leben gekommen.
Am Abend nahm Albert Spatfeld Kevin auf den Schoß, reichte ihm den Hörer und wählte die Telefonnummer von Heide Calvis.
»Heide Calvis«, meldete sie sich.
»Hier spricht Kevin, Tante Heide, es macht Spaß, deine Stimme zu hören. Mir geht es gut«, sagte Kevin.
Heide Calvis war ganz aufgeregt. »Mein Junge, ich hoffe, dass ich dich bald in meine Arme nehmen kann.«
»Ja, Tante, ich gebe dir Papa«, antwortete Kevin.
»Hallo, Frau Calvis, schönen Dank für den Brief. Leider muss ich Ihnen eine schreckliche Mitteilung machen. Meine Frau ist verstorben. Um darüber hinwegzukommen, habe ich mich der Kunst gewidmet und einen kleinen Erfolg zu verzeichnen. Eine bekannte Galerie in Aachen stellt von mir ein paar Bilder aus.«
»Gratuliere, das klingt nach dem Beginn einer Karriere«, sagte sie.
»Dazu wird es nicht kommen. Meine Zeit gehört in erster Linie Kevin. Noch reichen die Reserven und ich muss nicht Jobben«, sagte er.
»Sagen Sie mir, wenn Sie etwas brauchen. Für den Jungen tue ich alles. Besuchen Sie mich mit ihm«, sagte sie.
»Ich glaube, darüber würde der Bengel sich freuen«, meinte er.
»Und Sie nicht?«, fragte sie.
»Gut, einigen wir uns auf einen Termin«, antwortete er.
»Möchten Sie lieber nach Baltrum oder nach Hage kommen? Sonst könnte ich noch Wilhelmshaven und Norderney anbieten.«
»Sagen wir, heute in vierzehn Tagen besuchen Kevin und ich Sie auf der Insel Baltrum«, sagte er.
»Einverstanden! Haus Nummer 517. Wir haben keine Straßennamen. Ich schicke ihnen den Fahrplan des
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