Nebeltod auf Norderney
erreichten das Ende der Küstenbefestigung und gingen ein Stück über die Kurpromenade. Der Wind war aufgefrischt. Es wurde zusehends dunkel. Albert Spatfeld nahm den Schlüssel und öffnete die Tür.
»Kevin, du kannst noch eine Weile spielen«, sagte er und ging zum Telefon. Er nahm die Telefonnummer zur Hand und wählte.
»Heide Calvis«, meldete sie sich mit verweinter Stimme.
»Heide, es tut mir unendlich leid. Ich konnte deinen Vater nicht mehr retten«, sagte er mit bedeckter Stimme, das erste Mal das vertraute Du verwendend.
»Albert, ich danke dir. Du hast für ihn dein Leben aufs Spiel gesetzt. Der Polizist fand deinen Einsatz wagemutig. Ich kann der Schwester keinen Vorwurf machen. Sie war immer so zuverlässig«, sagte sie und brach in Tränen aus.
»Heide, wenn du möchtest, dann komm zu mir!«, sagte er.
»Gern. Der Gedanke an Paps und an die Einsamkeit sind unerträglich«, sagte sie.
»Sollen wir dich abholen?«, fragte er.
»Nein, ich telefoniere noch mit dem Bestatter. Spätestens um zehn Uhr bin ich da«, sagte sie.
»Bis dann«, antwortete er und legte den Hörer ab. Er ging zum Schlafzimmer, holte frische Wäsche, die Jeans, ein sauberes Oberhemd, Socken und Sandalen und betrat das Badezimmer. Er stellte das heiße Wasser an und ließ es über seine gebräunte Haut fließen. Dabei ließ er seinen Gedanken freien Lauf.
Natürlich stellte der Tod ihres Vaters für Heide Calvis einen harten Schlag dar. Aber bei der Beurteilung der Situation musste man sein Alter und seine Krankheit mit berücksichtigen. Letztlich hat sein unvorhergesehener Sturz in die Nordsee ihn von den Folgen seines Schlaganfalls befreit. Es ergab absolut keinen Sinn, die Trauer zu übertreiben. Ihm und Heide bot sich trotz der vielen Schicksalsschläge die wunderbare Möglichkeit eines Neuanfangs.
Er freute sich auf den Abend, selbst wenn Heide verständlicherweisenoch tief erschüttert um ihren Vater trauern würde. Er stellte die Dusche ab und frottierte seinen Körper. Während er sich anzog, ging er davon aus, dass die Zeit dem Ende zuging, wo er sich abends in seinem Bett einsam fühlen würde. Auf Kevin brauchte er keine Rücksicht zu nehmen. Der Junge mochte Tante Heide und liebte sie.
Er verließ das Bad, betrat das Spielzimmer, setzte sich auf einen Stuhl, nahm Kevin auf den Schoß und sprach zu ihm.
»Kevin, du und ich wissen, dass Mama beim lieben Gott ist. Sie hat uns gern gehabt und möchte, dass du nicht ohne eine Mutter groß wirst und ich nicht allein bleibe. Papa wünscht sich Entlastung vom Haushalt. Ich möchte große Bilder malen. Darum werde ich heute Abend Tante Heide fragen, ob sie nicht zu uns ziehen will, um mit uns zu leben.«
Kevin reagierte mit Freude. »Kommt Tante Heide heute Abend?«, fragte er.
»Ja, aber sie ist traurig, weil ihr Vater ertrunken ist«, sagte er.
»Aber der war doch sehr krank und ganz alt«, meinte Kevin.
»Sie hat ihn dennoch sehr lieb gehabt«, sagte er.
Sie vernahmen die Haustürklingel.
»Das wird sie sein«, sagte er uns setzte Kevin ab. Der stürzte zur Tür, öffnete sie.
»Papa hat gesagt, du wirst meine Mama«, sprudelte er heraus.
Frau Calvis nahm ihn auf den Arm, drückte ihn an sich und weinte vor Glück, obwohl ihr danach nicht hätte der Kopf stehen dürfen.
Albert Spatfeld kam ihr entgegen.
»Heide, es ist zwar nicht der richtige Zeitpunkt, aber Kevin hat es schon ausgesprochen. Wir drei sind ab sofort eine Familie«, sagte er und küsste sie und danach seinen Sohn. »Heute wird deine neue Mama dich zu Bett bringen. Gute Nacht mein Junge«, sagte er und strich liebevoll durch Kevins schwarze Locken. Dann ging er zum Wohnzimmer, öffnete eine Flasche von dem Wein, den er mitgebracht hatte, und stellte zwei Gläser auf den Tisch. Er schaltete das Radio an, fand einen Sender, der klassische Musik sendete, und empfingHeide Calvis in hervorragender Stimmung, nachdem sie Kevin in den Schlaf gesungen hatte.
»Heide, für deinen Vater stellte der schnelle Herztod eine Erlösung dar. Wir sind noch jung. Wir müssen die Zeit nutzen«, sagte er und reichte ihr ein Weinglas.
Sie nahm es in die Hand. »Du machst mich so glücklich«, hauchte sie.
Sie nippten an den Gläsern, stellten sie ab und küssten sich. Dann setzten sie sich auf das Sofa und nahmen sich an die Hand.
»Jetzt lass uns über deinen Vater sprechen«, sagte er liebevoll.
»Deine spontanen Rettungsversuche fanden die Bewunderung unseres Polizisten und des Arztes«, sagte sie
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