Nebenan: Roman
achtundvierzig Stunden eine Menge gesehen hatte, das jeder vernünftige Mensch als Unsinn abtun würde.
»Dort lang!« Oswald, der an der Spitze der kleinen Truppe ritt, deutete auf einen schmalen Weg, der in den Wald hineinführte.
Als sie näher kamen, erkannten sie zwei dicke Pfähle, auf denen schwarze Pferdeköpfe aufgespießt waren.
Oswald tätschelte über die Nüstern des vorderen Kadavers und blickte in den zerstampften, blutigen Schnee um den Pfahl herum. »Die hängen hier noch keine halbe Stunde«, erklärte er gelassen. »Sie sind noch nicht gefroren.«
Macha und Sainglu schnaubten unwillig, während Martin anfing leise ein paar Takte aus Who wants to live forever zu pfeifen.
»Was hat das zu bedeuten?« Till musste fast schreien, um den heulenden Wind zu übertönen.
»Ist so etwas wie eine Speisekarte«, erklärte Oswald gelassen. »Ich denke, der Gastgeber zeigt damit an, was zu Mittag gereicht wird. Natürlich könnten hier auch Reste von Gästen hängen, die den alten Drachen in irgendeiner Form verärgert haben. Aber ich wüsste nicht, wie Pferde das schaffen könnten … Nein, es ist gewiss ein Hinweis auf das Mittagsmenü. Habt ihr schon mal Pferdefleisch gegessen? Schmeckt gar nicht schlecht.«
Sainglu versuchte dem Ritter ins Bein zu beißen, doch Oswald wich aus, gab seinem Hengst die Sporen und preschte den verschneiten Weg zum Berg hinauf.
Till wünschte sich, die beiden Heinzelmänner wären noch bei ihnen. Seit sie Wallerich und Birgel zurückgelassen hatten, hatte sich in der Gruppe ein Galgenhumor breit gemacht, den er alles andere als komisch fand.
Fast eine Stunde war es jetzt her, dass sie sich an der entwurzelten Weide nahe dem Rheinufer getrennt hatten. Die beiden Heinzelmänner wollten es nicht riskieren, sich dem Drachenfels weiter zu nähern. Ein Trupp Studenten, die sich als irische Sagenhelden verkleidet hatten, mochte als Gäste beim Treffen der Dunklen noch durchgehen, Heinzelmänner nicht!
Wallerich und Birgel würden bei der Weide warten. Zwischen den Wurzeln an der windabgewandten Seite hatten sie eine kleine Erdhöhle gefunden, die wohl ein Dachs gegraben hatte. Mit dem Rest von Mozzabellas Proviant versorgt, hatten sie sich dort eingerichtet und versprochen auf die Ui Talchiu zu warten. Jedenfalls solange das Warten einen Sinn machte.
Oswald war zuversichtlich, dass sie in zwei Tagen wieder zurück sein würden.
Till blickte zu dem verschneiten Gipfel. Ein dichtes Geflecht schneebedeckter, dunkler Äste spannte sich über den Waldweg und versperrte fast vollständig die Sicht. Nur hin und wieder konnte man die Ruinen sehen. Der Student kämpfte gegen seine Angst. Doch je näher sie der Drachenhöhle kamen, desto unruhiger wurde er. Die übelsten Geschöpfe, die sich hundert Generationen von Sagendichtern hatten ausdenken können, warteten dort oben auf sie. Wie hatte er nur jemals zustimmen können an diesen Ort zu kommen!
Der Waldweg führte in endlosen Windungen den Berg hinauf. Manchmal lag der Schnee so tief, dass alle absteigen mussten, um den lästigen Streitwagen aus einer Schneewehe zu befreien. Trotz allen Genörgels weigerten sich Rolf und Almat allerdings das Gefährt einfach zurückzulassen.
Es musste mehr als eine Stunde vergangen sein, als sie eine kleine Lichtung erreichten. Ein Felsüberhang war dort mit einer Palisade abgeschirmt. Neben einem wackeligen Holzturm gab es ein großes, hölzernes Tor, das im Sturmwind hin- und herschwang.
»Wir sind da!«, verkündete Oswald. »Das Herz der Finsternis!«
»Verdammt trostlos hier«, brummte Gabriela. »Sieht so aus, als hätten die Dunklen keinen Stil. Wie kann man nur so ein Loch zu seinem Hauptquartier machen!«
Der Ritter grinste. »Wart’s ab, manchmal trügt der erste Eindruck.«
Sie hielten auf das Tor zu und hatten den Durchgang schon fast erreicht, als sich eine schwankende Gestalt aus dem Schnee erhob. Tills Stute bäumte sich erschrocken auf und der Ui Talchiu wurde aus dem Sattel geworfen. Seine Gefährten zogen die Schwerter. Vor ihnen stand ein Kerl mit zerzaustem Bart und leeren Augenhöhlen. Eine große Axt hatte seinen Helm gespalten und steckte in seinem Schädel. Seine bläulich verfärbten Finger hielten einen Speer mit rostiger Spitze umklammert, den er drohend den Reitern entgegenstreckte.
»Immer mit der Ruhe, Erik«, rief Oswald. »Ich bin’s!«
»Das Wolkensteiner Schandmaul?« Der Wächter drehte sich halb in Richtung des Ritters. Schnaubend sog er Luft durch
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