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Nebenwirkungen (German Edition)

Nebenwirkungen (German Edition)

Titel: Nebenwirkungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
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Aufgabe, doch wenn jemand ihre brillante und sture Chefin überhaupt beeinflussen konnte, dann war sie es. Nach einigem Zögern versprach sie schließlich, ihr bestes zu versuchen.
    »Ich liebe Sie, Sie sind ein Schatz, Amélie«, rief Bastien aus, und wieder schoss ihm das Blut in den Kopf, als er begriff, dass das keine leere Floskel war.
    »Ich weiß, au revoir«, tönte es kokett aus dem Hörer, bevor sie auflegte.

KAPITEL 11
     
An Bord der Crown of the Seas
     
    U nd der HERR sprach: Weil sie mein Gesetz verlassen, das ich ihnen vorgelegt habe, und meinen Worten nicht gehorchen, auch nicht danach leben, sondern folgen ihrem verstockten Herzen und den Baalen, wie ihre Väter sie gelehrt haben, darum spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels: Siehe, ich will dies Volk mit Wermut speisen und mit Gift tränken. Jeremia Kapitel 9, Verse 12 bis 14.« So begann Pastor Johnson aus Tuscaloosa, Alabama seinen Sermon im Bordtheater der Crown of the Seas, das auf Anordnung des Kapitäns eigens für diese Veranstaltung nochmals geöffnet worden war. Die riesige Arena war berstend voll von Leuten, die Trost suchten, weil ihnen die heimtückische Krankheit mitten im unbeschwerten Ferienvergnügen den Partner, ihr Kind, den Vater oder die Freundin entrissen hatte. Trost und ein wenig Wärme brauchten sie mehr als alles andere in dieser dunkelsten Stunde ihres Lebens, doch der stockkonservative Prediger aus dem Süden wusste es besser. Gott hatte zu ihm gesprochen, und wer durfte sich anmaßen, an Gottes Wort zu zweifeln? Pastor Johnson war sofort und mit großer Freude für den kranken Schiffsgeistlichen eingesprungen, denn der HERR hatte ihn auserwählt, diese Menschenkinder zu erwecken. Er musste ihnen den Spiegel vor die Augen halten, ihnen zeigen, dass dies eine Strafe Gottes war für ihre ungesühnten Sünden. Nicht umsonst hatten die frommen Farmer seiner Gemeinde so üppig gespendet für seine heilige Wallfahrt ins Land der Pilgerväter. Kaum hatte er mit seiner Predigt begonnen, sah er, wie sich Gottes Wort auf wunderbare und traurige Weise bestätigte, denn viele, sehr viele der konsternierten Besucher seines Gottesdienstes verließen den Raum wieder, weil sie seinen Blödsinn nicht länger anhören mochten.
    »Warum liegt dieser Spinner nicht im Koma?«, flüsterte beim Hinausgehen jemand in Sophies Ohr. Zu ihrer Verblüffung war es die Nachbarin zur Linken, deren Gesellschaft Samanthas Mutter bisher gemieden hatte wie der Teufel das Weihwasser. Die sonst stets dick mit Make-up gepanzerte und mit fetten Klunkern verzierte Junggebliebene war kaum wieder zu erkennen in ihrem schlichten grauen Kleid, ohne Schmuck und Schminke. Und sie hatte genau das ausgesprochen, was Sophie aufgebracht gedacht hatte, ohne ihre Empörung über den Scharlatan in Worte fassen zu können. Der wohltuend giftige Kommentar ihrer Nachbarin ließ sie die Tragödie, die wie eine Naturkatastrophe über sie und all diese Leute hereingebrochen war, für einen Augenblick vergessen. Schmunzelnd antwortete sie:
    »Gott ist barmherzig.«
    »Muss wohl so sein, manchmal, selektiv.« Die Nachbarin streckte ihre Hand aus und sagte ernst: »Nennen Sie mich doch einfach Rose. Ich hoffe, mein Zynismus hat Sie nicht verletzt. Er hilft mir in solchen Situationen, wirkt wie ein Ventil, wenn der Druck zu groß wird.«
    »Sophie.« Dankbar drückte sie die Hand und beeilte sich, Rose zu versichern: »Keineswegs. Ein solches Ventil ist genau das Richtige, doch mir fehlen leider oft die passenden Worte.« Die Wandlung dieser Frau beeindruckte sie. Hatte sie sich zu sehr von ihrem schrillen Äußeren blenden lassen? Zu ihrer eigenen Überraschung spürte sie plötzlich das Bedürfnis, ihre Nachbarin genauer kennen zu lernen.
    Als sie bei ihren Kabinen angekommen waren, legte sie ihr die Hand auf den Arm und fragte mit einladendem Lächeln: »Rose, darf ich Sie zu einer Tasse Tee einladen? Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich jetzt nicht allein sein müsste.« Die Frauen betraten Sophies makellos aufgeräumte Kabine. Nichts außer den marineblauen Zierkissen lag auf den scheinbar unbenutzten Betten, keine Kleider, Bücher oder Zeitschriften versperrten den Platz auf dem Sofa, keine Schuhe auf dem Boden, über die man stolpern konnte, nur die Bordzeitung lag ordentlich gefaltet auf dem Glastisch. Kurz, das kleine Apartment glänzte und strahlte wie am ersten Tag der Jungfernfahrt.
    »Du meine Güte«, rief Rose aus, als sie sich umsah. »Ich darf Sie nie in mein

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