Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nebenwirkungen (German Edition)

Nebenwirkungen (German Edition)

Titel: Nebenwirkungen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H. J. Anderegg
Vom Netzwerk:
Newport News Williamsburg International Airport auf Starterlaubnis. Es regnete Bindfäden, der Wind heulte durch die Ritzen der Tore, meterhohe Wellen peitschten an die Kaimauern der nahen Virginia Beach, weiße Gischt tanzte wild auf der schwarzen See und es schien, als versteckte sich der Tag vor der düsteren Nacht. An ein Auslaufen von Hilfsschiffen war nicht zu denken, so blieb den Freiwilligen nichts anderes übrig, als auf leichteren Wind zu warten, bis die vier schweren Hubschrauber der Küstenwache aufsteigen konnten. Erst am späten Nachmittag hellte sich der Himmel von Osten her etwas auf und die Piloten erhielten die Starterlaubnis von der Flugüberwachung.
    Der Regen war schwächer geworden, dennoch konnte Samantha den Horizont kaum erkennen, als sie durch das nasse Fenster des Hubschraubers spähte. Der Pilot machte ein Zeichen, deutete nach links unten. Da lag sie scheinbar reglos in der schwarzen Brandung, die Crown of the Seas, der Stolz ihrer Reederei. Hilflos und ziellos trieb sie auf offener See, den Bauch voller wütender, verzweifelter und geistesgestörter Ausgestoßener, den Kühlraum gepackt mit Leichen, eine dezimierte Besatzung am Ende ihrer Kräfte, ein schwimmender Albtraum.
    Der erste Hubschrauber landete trotz heftiger Windböen auf dem großen weißen H der kreisrunden, grünen Plattform im Bug des Schiffs, entlud seine Passagiere und medizinisches Material bei laufendem Rotor und zog in eleganter Schleife wieder hoch, beeilte sich, das Grauen rasch hinter sich zu lassen. Der Erste Offizier empfing Heike und ihr Team und führte sie ins nahe Bordtheater, das man in eine improvisierte Impfstation verwandelt hatte, da die regulären medizinischen Einrichtungen der Crown hoffnungslos überfüllt waren. Die Hälfte des Teams blieb hier und würde die Impfungen der Passagiere durchführen, die noch nicht von der Krankheit befallen waren. Die zweite Hälfte folgte dem Offizier auf die Krankenstation, um die Patienten zu behandeln, das Sterben endlich zu beenden.
    Samantha rannte atemlos durch die langen Korridore von Deck vierzehn, vorbei an den endlosen Reihen von Kabinentüren, bis sie die Nummer gefunden hatte, die sie der Reederei nach zäher Diskussion entlockt hatte. Mit klopfendem Herz klingelte sie. Keine Antwort. Sie presste das Ohr an die Tür, doch in der Kabine schien sich nichts zu regen. Verzweifelt drückte sie länger auf die Klingel, klopfte und rief laut:
    »Mom, ich bin's, Sam. Mach bitte auf. Mom?«
    »Sie müssen wohl die Journalistin sein, Sophies Tochter?«, fragte eine dunkle Stimme hinter ihr. Sie fuhr herum und blickte ins fahle Gesicht eines angegrauten älteren Herrn, dessen vornehme Züge in seltsam krassem Gegensatz zu seiner nachlässigen, zerknitterten Kleidung standen. Der Mann streckte die Hand aus. »Entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken. Mein Name ist Stanwood, Ross Stanwood. Ich bin ein Bekannter von Sophie Herbert.«
    »Sehr erfreut«, antwortete Samantha abwesend. »Wissen Sie was mit meiner Mutter ...«
    »Keine Sorge, es geht ihr gut, soweit ich weiß«, unterbrach er sie. »Vielleicht ist sie bei ihrer Nachbarin Rose.« Er zeigte auf die nächste Tür. Sie bedankte sich eilig und wollte sich entfernen, aber er hielt sie zurück. »Sie sind mit dem Team gekommen, nicht wahr?« Sie nickte ungeduldig, doch er ließ nicht locker. »Können sie die Seuche heilen?« Wieder nickte sie und ging weiter. »Eine letzte Frage noch, entschuldigen Sie. Wer leitet das Team?« Sie sagte es ihm und gleich darauf öffnete Rose ihre Tür. Als Samantha sich vorstellte, erscholl ein Freudenschrei aus der Kabine. Ihre Mutter stürzte zur Tür und umarmte ihre Tochter mit strahlendem Lächeln und feuchten Augen.
    »Sam. Du hier? Gott bin ich froh, dich zu sehen!«, schluchzte sie.« Es schien, als wiche plötzlich alle Kraft aus ihrem Körper. Wie ein leerer Sack hing sie an ihrer Tochter. Endlich brauchte sie nicht mehr die Starke, die Unbeugsame zu mimen, halfen die süßen Freudentränen die alles überschattende, bittere Erinnerung an den Tod ihres Lebensgefährten wenigstens ansatzweise zu mildern. Rose geleitete die beiden behutsam zum Sofa des kleinen Apartments, schloss die Tür und zog sich mit dem einsamen Mr. Stanwood, den sie energisch herein gewinkt hatte, leise ans Fenster zurück. Sie versuchte, den verwirrten Anwalt, der innerhalb weniger Tage seine ganze Familie, ja sein ganzes bisheriges Leben verloren hatte, in ein Gespräch zu verwickeln.

Weitere Kostenlose Bücher