Nebenwirkungen (German Edition)
erreichten sie den von Notleuchten spärlich erhellten Sammelplatz auf Deck 10.
»Ross. Wo ist Ross?«, rief Sophie. Der Mann war nirgends mehr zu sehen in der dicht gedrängten Menschenmenge.
»Ich muss ihn suchen.«
»Nein, Mom, musst du nicht, bitte. Er kommt schon klar. Hier kann er sich nicht verlaufen.«
Die drei Frauen mussten sich in der Tat keine Sorgen um ihren Bekannten machen. Ross hatte sich in der Dunkelheit von ihnen getrennt und verfolgte nun durch düstere Gänge, gegen den Strom flüchtender Passagiere, sein eigenes Ziel. Samanthas Geschichte hatte sich tief in seine Seele eingebrannt. Er konnte nicht anders, er musste dem Menschen gegenüberstehen, den er nun für all sein Elend verantwortlich machte. Er musste Professor Wolff finden. Die Warnrufe der anderen Leute nicht beachtend eilte er weiter in die falsche Richtung, bis er das medizinische Zentrum, die ursprüngliche Krankenstation im Heck des Schiffs, erreicht hatte. Verdutzte Helfer wiesen ihm den Weg zu Heikes Sprechzimmer.
»Professor Wolff?«, fragte er mit fester Stimme, als er ohne anzuklopfen eintrat. Eine erschöpft wirkende, blasse Frau mit eindrucksvoll ebenmäßigen Gesichtszügen und einem rot schimmernden, ungebändigten Haarschopf wandte sich von ihrer Patientin ab und schnauzte ihn an:
»Hören Sie, Sie können hier nicht ...«
»Und ob ich kann. Sind Sie Professor Wolff?« Sie nickte ärgerlich.
»Sie haben mir meine ganze Familie genommen. Samantha Herbert hat mir die Geschichte erzählt. Ich kenne die Wahrheit. Ich weiß alles.« Heikes Gesicht wurde noch eine Spur blasser, doch sie fing sich rasch wieder und versuchte den offenbar Verwirrten zu beruhigen.
»Wer sind Sie? Ich kenne Ihre Familie nicht. Wenn Sie Hilfe brauchen, dann ...« Er unterbrach sie aufgebracht.
»Mein Sohn und meine Frau hätten Hilfe gebraucht, aber jetzt ist es zu spät. Sie sind an der Seuche gestorben, die Sie in die Welt gesetzt haben. Mir kann niemand mehr helfen - und Ihnen auch nicht.« In seiner Hand blitzte ein langes Messer auf und ehe Heike und die entsetzten Zeugen der Auseinandersetzung begriffen, was sich abspielte, hatte der verzweifelte Mr. Stanwood schon mehrmals in blinder Wut auf die vermeintliche Mörderin seiner Familie eingestochen. Heike brach blutüberströmt am Bett ihrer letzten Patientin zusammen. Ein schwaches Stöhnen, ein kurzes Zucken, ein letzter leiser Atemzug, und sie lag still und verkrümmt, mit gebrochenen Augen in ihrem Blut am Boden. Erst die Schreckensschreie der Patientin löste die Starre der übrigen Anwesenden. Eine Pflegerin versuchte vergeblich, der Niedergestochenen zu helfen, wartende Patienten und Helfer schrieen und rannten aufgeregt durcheinander, dass die Krankenstation, noch vor wenigen Minuten ein stilles Leichenschauhaus, plötzlich einem Hühnerstall glich, in den der Fuchs eingedrungen war.
Doch dieser Fuchs hatte längst das Weite gesucht. Im Durcheinander fiel nicht auf, dass Ross zum nächsten Notausgang rannte und in kurzer Zeit in den dunklen Eingeweiden des Ozeanriesen verschwunden war. Ziellos rannte er weiter, immer tiefer in den Rumpf des Schiffs, mied jede Begegnung. Noch immer hielt er das blutige Küchenmesser aus seiner Kabine umklammert, mit dem er gleichsam die unerbittliche Seuche getötet hatte. Erst allmählich wurde ihm bewusst, was er getan hatte, begriff er überhaupt, dass er sinnlos durch die Korridore rannte. Zu spät, denn inzwischen befand er sich im gefährlichen Bereich des Brandherdes. In seinem Wahn hatte er den beißenden Rauch ignoriert, bis er keuchend und nach Atem ringend mitten in einem von giftigen Gasen erfüllten Flur in die Knie sank. Er versuchte, sich weiter zu schleppen, doch in der Dunkelheit konnte er nicht sehen, welche Richtung er einschlagen musste. Ein Atmen war nun kaum mehr möglich, Rauch stach in seine Lungen, die Augen drohten aus dem Schädel zu quellen. Mit einem tonlosen, kratzenden Husten gab sein geschundener Körper schließlich den Kampf auf, und Dr. Ross Stanwood verschied zwanzig Minuten nach seiner Bluttat allein und unbemerkt im finsteren Rumpf der havarierten Crown of the Seas.
Noch in der Nacht flaute der Sturm ab, sodass der bereitstehende Konvoi aus zwei Löschschiffen und vier Schleppern auslaufen konnte. Wie ein verendeter Wal wurde die inzwischen manövrierunfähige Crown nach einer wochenlangen Irrfahrt in den Hafen von Norfolk, Virginia, geschleppt, wo der geschlagene Riese und die erschöpften Menschen an Bord
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