Nebenwirkungen (German Edition)
Hirngespinst, sondern brutale Realität«, antwortete sie etwas eingeschnappt. Seit Tagen saß sie wie auf Nadeln, denn der Kontakt zu ihrer Mutter war vollständig abgebrochen. Alle Kommunikationskanäle zum Schiff schienen gekappt zu sein. Sie hatte keine Ahnung, ob es ihr gut ging, ob sie überhaupt noch lebte. Und nun hatte sich das Elend auch hier zu ihren Füßen eingenistet. In einer überraschenden Blitzaktion hatte das DH veranlasst, die ganze Landzunge mit dem Millennium Dome abzuriegeln und den Dome in ein gigantisches Notlazarett umzuwandeln. Sterbehospiz oder Siechenhaus nannte Samantha die neue Funktion des riesigen Gebäudes. Der Blackwall Tunnel war wie alle anderen Zugänge gesperrt, lediglich die vom DH genehmigten Transporte ließ man noch zu. Sie blickten hinunter auf die Sperrzone, in der man die Opfer der neuen Seuche wie Aussätzige von der übrigen Welt isolierte. Wer hier eingeliefert wurde, verließ die Zone nur noch im schwarzen Sack, auf dem Weg zum nächsten Krematorium. Bastien hatte recht, jenseits der Themse lag das Totenreich.
»Entschuldige, ich hab's nicht so gemeint, bin etwas durch den Wind«, sagte Samantha, als sie zu Bastien ans Fenster trat.
»Schon O. K. Glaubst Du, dass unsere Freunde in Cambridge das Problem jetzt in den Griff bekommen werden?« Samantha zuckte die Achseln. Robert hatte sie kurz informiert, dass man einen wesentlichen Schritt vorangekommen war, doch was das bedeutete, wusste sie nicht. Weder sie noch Bastien, noch sonst jemand, der zufällig auf den Dome blickte, konnte ahnen, dass hier vor wenigen Stunden eine der größten Rettungsaktionen des Planeten unter dramatischen Umständen begonnen hatte.
Heike Wolff, Peter Thornton und ein eilig zusammengestelltes Team des DH waren am frühen Morgen in die Sicherheitszone eingeschleust worden. Wie der CMO vorhergesagt hatte, fand das Team auf Anhieb genügend freiwillige Versuchskaninchen, denn die Todgeweihten hatten nichts mehr zu verlieren. Die Auswahl der Testpersonen gestaltete sich trotzdem äußerst schwierig, denn je mehr Leute begriffen, dass sie nicht selektiert wurden, desto aggressiver wurden sie. Gefährliche Szenen mit wüsten Beschimpfungen und tätlichen Angriffen auf das Team spielten sich unter der weißen Kuppel ab, bis sich die Arbeit nur noch unter dem Schutz der hier stationierten Armeeeinheit weiterführen ließ. Es half nichts, dass die Verantwortlichen immer und immer wieder versicherten, dass schließlich allen geholfen werde. Jeder wollte zuerst behandelt werden, koste es was es wolle.
Doch das Team achtete darauf, dass die Auswahl der Testgruppe nach wissenschaftlich vertretbaren Kriterien erfolgte. Sie mussten eine möglichst repräsentative Mischung verschiedener Ethnien, Geschlechter und Altersgruppen auswählen, um in kürzester Zeit stichhaltige Ergebnisse zu erhalten. Die Kunde einer möglichen Heilung verbreitete sich wie ein Lauffeuer, gab den Verdammten dieser Vorhölle wieder Hoffnung. Verzweifelte Angehörige zuhause konnten nicht verstehen, warum ausgerechnet ihr Partner, ihr Kind oder ihre Mutter nicht behandelt wurden, und sie begannen, Ärzte, Krankenschwestern, Empfangsdamen und ahnungslose Spitalbuchhalter mit aufgebrachten Anrufen einzudecken. Es dauerte nicht allzu lange, bis das Gerücht die Massenmedien erreichte und nicht nur in London, in ganz England zu hektischen und gehässigen Stellungnahmen, Gegendarstellungen und genüsslicher öffentlicher Zerfleischung politischer Gegner führte. Am Nachmittag dieses windigen Tages fuhren die ersten Übertragungswagen der lokalen und nationalen Nachrichtensender an die Grenze der Sicherheitszone, und über dem Gebiet kreisten ihre Hubschrauber wie die Geier, bevor sie von Polizei und Armee vertrieben wurden.
Normales konzentriertes Arbeiten war unter diesen chaotischen Umständen nahezu unmöglich für Heike und ihr Team, doch sie verbiss sich in ihre Aufgabe, versuchte sie als gewohnte wissenschaftliche Tätigkeit zu sehen und widerstand so dem zunehmenden Druck, dem sie ausgesetzt waren. Ihr Glück war, dass sich die Wirkung des neuen Medikaments sehr rasch, innert Stunden, im Blut nachweisen ließ, noch bevor der Patient eine Besserung spürte. So gelang es dem rastlos arbeitenden Team, bis am Morgen des Folgetags achtzig Prozent der Tests auszuwerten, alle mit positivem Ergebnis. Die Therapie hatte die Prionenproduktion gestoppt. Todmüde griff Peter punkt acht Uhr morgens zum Hörer und wählte die Nummer des
Weitere Kostenlose Bücher