Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
Ion und Lexandru einbrachte, die ihn als »Radu, die Amme« beschimpften.
Radu war hochgewachsen, außergewöhnlich groß für jemanden, dessen Vater recht klein war. Mit neun war er bereits so groß wie ein Fünfzehnjähriger und doch gertenschlank – wie ein Mädchen, wie Ion und Lexandru meinten. Vielleicht lag es in seiner Natur, dünn zu sein; wahrscheinlicher war jedoch, dass es ihm an Nahrung mangelte und es jede Menge harter Arbeit gab, dass er so blieb. Doch er war durchaus kräftig, und trotz aller Repressalien hatte er auch einen starken Charakter. Seine Miene war in der Regel ausdruckslos. Die dunklen, freudlosen Augen lagen tief in den Höhlen, dazu hatte er hohe Wangenknochen, einen länglichen Kiefer und kräftige, gerade Zähne. Seine Lippen waren schmal und zusammengekniffen, denn er hatte bereits als Kind gelernt, dass es besser war, den Mund zu halten, vor allem in der Nähe der Gebrüder Zirescu.
Als Kind hatte Radu rabenschwarzes Haar gehabt, doch bereits in seiner Jugend durchzogen graue Strähnen seine empfindsamen, von tiefen Adern gezeichneten Schläfen. Seine Nase war lang, aber keineswegs zu groß ... bis Ion Zirescu sie ihm in einem recht einseitigen Handgemenge brach und sie mehr schlecht als recht zusammenheilte, unten breit und krumm in der Mitte, was Radu irgendwie das Aussehen eines Falken verlieh, in Schach gehalten nur von einem eisernen Willen. Den brauchte er auch, um seine Selbstbeherrschung zu wahren, und sei es nur, um seinen schwächelnden Vater zu beruhigen, den man bestenfalls friedliebend, im schlimmsten Fall aber auch einen Feigling nennen konnte. Den Zirescus jedenfalls war er nicht gewachsen. Das mochte erklären, weshalb Radu in Schlägereien regelmäßig den Kürzeren zog (vielleicht war das, gemessen an den Umständen, sogar das Klügste, was er tun konnte). Denn die Zirescu-Zwillinge mochten zwar auf Streit aus sein, aber unter den jungen Männern des Stammes hatten sie jede Menge Anhänger, und diese hatten Radu nur zu oft niedergehalten, während die beiden auf ihn eintraten und -schlugen. Also hatte der junge Radu gelernt, sich zurückzuhalten, während die Ereignisse allmählich gänzlich außer Kontrolle gerieten.
Während Radus Jugend ging alles unvermindert weiter. Sie schlugen ihm die Nase und die Knochen blutig, verunstalteten sein Gesicht, doch gegenüber seinem Vater, um dessen Gesundheit es schon seit Langem nicht zum Besten bestellt war, kam ihm nicht ein einziges Mal ein Klagelaut über die Lippen. Freiji Lykan mochte die Last der Jahre spüren und von den Entbehrungen, die er unter seinem Häuptling, diesem Schwein, erleiden musste, erschöpft sein, doch auch mit Giorgio ging es bergab ... allerdings lag es in seinem Fall an dem guten Pflaumenschnaps und dem vielen Fleisch, das er in sich hineinstopfte, und beides forderte seinen Tribut. Und natürlich passten seine viehischen Söhne auf wie die Geier und warteten nur darauf, dass er seinen letzten Atemzug tat. Die Frage war nur, wer die Szgany Zirescu tyrannisieren durfte, wenn es Giorgio nicht mehr gab. Vielleicht sollten sie es zu zweit tun, und sei es nur, weil sie einander misstrauten und dieselbe Furcht teilten. Oh, denn sie wussten durchaus, wie sehr sie bei einem Großteil ihres Stammes verhasst waren.
Ungefähr zu dieser Zeit gelangte Shaitan von Westen her auf die Sternseite und errichtete auf der Findlingsebene seine Feste, während sich in den Sümpfen des Ödlandes die Vampirsporen vermehrten. Bislang waren deren Auswirkungen auf der Sonnseite nur spärlich in Erscheinung getreten. Andere Übel hingegen waren stets gegenwärtig. Und bei den Szgany Zirescu trug dieses Übel den Namen ihrer wohl bekanntesten Familie: nämlich Zirescu!
Eines Morgens konnte Freiji nicht mehr seinem Tagwerk nachgehen. Seine Augen ließen ihn im Stich, außerdem war er ohnehin noch nie ein guter Jäger gewesen. Nun bereitete ihm auch noch sein Rücken so starke Schmerzen, dass er kaum zu laufen vermochte, dabei war er an der Reihe, in den Wald zu gehen, um Nüsse und Früchte zu sammeln. Bei den Szgany Zirescu pflegten die Männer so lange zu arbeiten, bis sie umfielen. Dann blieben sie liegen, während der Stamm weiterzog, oder bis sie die Kraft fanden, wieder aufzustehen. Unter den Szgany Zirescu gab es nur wenige Müßiggänger (ausgenommen natürlich Giorgio, dessen Söhne und eine Handvoll von deren Kumpanen) und sehr wenige Alte. Und obwohl Freiji fast ein Krüppel war, ließ sein Anführer ihn mit
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