Necroscope 9: WERWOLFSJAGD (German Edition)
Gestalt zu wandeln – und herauszufinden, weshalb er vor grenzenloser Tatkraft nur so strotzte. Und was die Wunde an seinem Schenkel betraf: Die war innerhalb eines Tages und einer Nacht verheilt; es war kaum eine Narbe zurückgeblieben, die davon zeugte.
Radu hatte einiges Geschick darin entwickelt, die Lagerplätze und Siedlungen der Menschen zu umgehen, und tat dies auch weiterhin; leider konnten sie ihm ja nicht ausweichen. Doch je weiter er auf seiner Wanderung nach Osten gelangte, desto deutlicher nahm er eine Veränderung wahr. Diesmal jedoch nicht an sich selbst, sondern an den Szgany, an der Bevölkerung der Sonnseite.
Bisher hatte er die Menschen gemieden und war allen Schwierigkeiten, oder vielmehr seiner Lust am Töten, aus dem Weg gegangen; seinen Durst (und den seines Parasiten) stillte er am rohen Fleisch wilder Tiere. Was dies anging, hatte Radu sich, ohne es überhaupt zu wissen, gegen seinen Egel gestellt! Aber Vampire sind nicht nur hartnäckig, sondern auch äußerst geduldig. Wenn man so zählebig ist und zudem noch Jahrhunderte vor sich hat, fällt es einem nicht schwer, sich in Geduld zu üben.
Er ließ Radu in dem Glauben, das Rauschgefühl, das er empfand, als er Ion Zirescu abschlachtete und dessen Blut trank, entspringe seiner Rachsucht und nicht seiner Blutgier. Radus Motiv war Rache, gewiss, doch sein Egel war auf das Blut angewiesen. Nun, mit der Zeit würde Radu es schon begreifen. Bis dahin musste sein Vampir sich mit Tierblut zufriedengeben. Doch, wie gesagt, Tier war eben nicht gleich Tier.
Und in der Tat waren unter den Szgany der Sonnseite große Bestien aufgetaucht, was auch der Grund für die Veränderungen war, die Radu festgestellt hatte. Denn nun waren während der langen Tagesstunden an den Hängen des Grenzgebirges entschlossene Männer mit grimmigen Gesichtern unterwegs, die Jagd machten auf ... Menschen und diese abschlachteten! Aye, es war ein Abschlachten, und Radu sah es mit eigenen Augen!
Es geschah gut zwei Jahre und neun Monate (einhundertfünfunddreißig oder -sechsunddreißig Sonnaufs), nachdem er in den westlichen Wäldern Rache an den Zirescus genommen hatte ...
Im Zwielicht des Morgengrauens war der dahinjagende Mond nichts weiter als ein blasser runder Fleck am amethystfarbenen Himmel über der Sonnseite. Bald würde sich der Glutofen der Sonne über den Horizont erheben, doch dies würde Radu nicht unvorbereitet treffen. Seine Lichtempfindlichkeit war mittlerweile voll ausgeprägt; er wusste, dass das direkte, ungefilterte Licht der Sonne ihn töten würde, obwohl er noch immer keine Ahnung hatte, weshalb.
Kaum hatte er es sich im rückwärtigen Teil einer nicht allzu tiefen Grotte bequem gemacht, die Wind und Wetter in die Bergflanke getrieben hatten, da vernahm er direkt vor seinem Unterschlupf ein Keuchen und Scharren. Es war ein Mann. Offensichtlich war er auf der Flucht und völlig erschöpft. Sein Atem ging schwer, er hatte Angst. Sein Körper war ausgetrocknet, und in den ersten zaghaften Strahlen, die sich am südlichen Horizont zeigten, warf seine Haut bereits Blasen. Mit einem erleichterten Ächzen stolperte er in Radus Höhle.
In einer dunklen Ecke verborgen, schirmte Radu das leuchtende, gelbe Funkeln seines Blickes ab und wartete, bis der Mann – ein abgerissen wirkender Sonnseiter, wahrscheinlich ein Einzelgänger aus den Bergen – seine Fassung zumindest teilweise wieder zurückgewonnen hatte. Als sein Atem wieder etwas ruhiger ging und er aufhörte zu winseln, fragte Radu mit leiser Stimme: »Wer ist hinter dir her, und weshalb?«
Beim ersten Wort zuckte der andere zusammen. Hörbar die Luft einziehend, fuhr er auf dem staubigen Boden, auf dem er saß, herum und krächzte: »Was? Wer ist da?« Dann sah er Radus Augen und den dunklen Umriss eines Mannes, der sich im hinteren Teil der Höhle auf einem Lager aus Heidekraut ausgestreckt hatte. Radus Armbrust war geladen; indem er sie auf den Mann richtete, erhob er sich mühelos und ging – weil die Decke so niedrig war – gebeugt auf den Neuankömmling zu, der sich ängstlich an die Wand der Höhle drückte. Dem Mann hatte es anscheinend die Sprache verschlagen; sein Hals zuckte und sein Adamsapfel hüpfte auf und ab, aber er brachte nur ein Gurgeln hervor. Schließlich deutete er auf Radus Gesicht und auf dessen Augen.
»Eh?«, knurrte Radu. So langsam war es mit seiner Geduld vorbei. Er wollte wissen, was hier vor sich ging. Falls dieser Mann auf der Flucht war, dann wollte er
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